Totenblüte
regelmäßigen Verpflichtungen? Eine Vorlesung vielleicht?»
«Nein, nein», antwortete Marjorie. «Freitags hat Doktor Calvert nie Veranstaltungen.» Sie sah Vera eifrig an. «Soll ich Sie vorläufig eintragen?»
«Nein, Herzchen, vielen Dank. Ich rufe ihn im Lauf der Woche noch an, wenn wir wieder seine Hilfe brauchen.» Vera legte den Kalender zurück ins Regal, winkte den drei Damen noch einmal zu und kehrte zu Joe zurück, der draußen Schmiere stand.
«Und?»
«Er hatte beide Nachmittage frei. Den Mittwoch vor Lukes Tod und den Freitag vor Lilys Tod. Am Mittwoch hat er sogar noch ein Tutorium abgesagt.»
«Dann hatte er also zumindest die Gelegenheit», sagte Ashworth. «So wie vermutlich fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung im Nordosten Englands. Aber wir haben kein Motiv. Nicht mal eine Verbindung. Nach allem, was wir bisher wissen, kannte er keines der beiden Opfer.»
Vera wollte schon antworten, dass ihr das egal sei. Der Mann war ihr einfach unsympathisch. Aber sie hatte keine Lust, sich von Ashworth einen Vortrag über Distanz und Objektivität halten zu lassen, deshalb schwieg sie.
Draußen war es immer noch heiß. Auf den Wiesen lagen Studenten in der Sonne, andere schlenderten im Schatten der neugotischen Gebäude Richtung Stadt. Bis zum nächsten Termin war es noch über eine Stunde, und Vera hatte plötzlich das Gefühl, als verplemperte sie ihre Zeit. Sie rief in Kimmerston an, doch es gab nichts Neues. Holly hatte für den späteren Nachmittag ein Treffen mit Lilys Mitbewohnerinnen vereinbart, und Charlie versuchte, Lilys Bank dazu zu bewegen, Informationen freizugeben. Für den nächsten Tag war eine Pressekonferenz angesetzt, und ein paar Kollegen würden den Nachmittag am Leuchtturm zubringen und die Spaziergänger dort befragen, ob sie etwas gesehen hatten. Die Pressekonferenz würde der Pressesprecher übernehmen. Darüber war Vera immerhin froh. Bei solchen Gelegenheiten kam sie sich immer vor wie ein Tanzbär. Sie beendete das Telefonat.
«Kaffee», beschloss Ashworth. «Und was zu essen. Ich habe noch nichts gefrühstückt.» Er spürte, dass sie schlechte Laune hatte, und wusste, dass Essen zumindest eine Zeit lang helfen würde. Vera dachte sich, dass er mit ihr eigentlichgenauso umging wie mit seiner Tochter: Er lenkte sie ab, damit sie keinen Wutanfall bekam.
Er parkte sie an einem Tisch, unter einen Sonnenschirm draußen auf dem Bürgersteig und betrat das Café, das sich ganz in der Nähe der Universität befand. Um sie herum saßen träge Studenten. Zwei junge Frauen näherten sich dem Tisch, und Vera setzte schon einen bösen Blick auf, damit sie sich wieder verzogen. Doch dann erkannte sie sie. Es waren die beiden Studentinnen aus dem Hörsaal, vor denen Peter Calvert sich so produziert hatte.
«Tut mir leid», sagte sie. «Alles in Ordnung. Setzen Sie sich ruhig zu uns. Ich nehme nur meine Tasche weg.»
Die beiden musterten sie leicht verunsichert. Wie einen bissigen Hund, dachte Vera. Hatte die Jugend von heute denn gar keine Manieren mehr? Wussten sie nicht, dass man zu älteren Leuten höflich sein sollte? Da kam Ashworth zurück, die Freundlichkeit in Person, und Vera wusste wieder einmal, was sie eigentlich an ihm hatte.
«Soll ich euch einen Kaffee spendieren?», fragte er. «Ihr studiert doch noch, oder? Ich weiß selbst noch ganz gut, wie das war. Vor allem am Semesterende, wenn das Ausbildungsdarlehen schon aufgebraucht ist.»
Das eine Mädchen lachte. «Mein Darlehen war schon eine Woche nach Semesteranfang weg.»
«Ich hole den Kaffee», sagte Vera, ging in das Café, um die zusätzlichen Getränke am Tresen zu bestellen – und vor allem, um Ashworth das Gespräch mit den beiden zu überlassen.
Als sie mit dem Tablett zurückkam, lachten sie schon ganz vertraut miteinander. Er ging problemlos als älterer Student durch, obwohl Vera ganz genau wusste, dass er nie eine Universität von innen gesehen hatte.
Die Mädchen stellten sich vor. Hochtrabende südenglischeNamen, die Vera schon nach fünf Minuten wieder vergessen hatte. Camilla? Amelia? Jemima? Egal. Ashworth würde sie sich schon gemerkt haben.
«Das ist Vera», sagte er. «Meine Tante.»
Sie tranken jede einen Schluck von ihrem Milchkaffee und musterten ihn mitfühlend. Ein Pflichttermin, dachten sie jetzt wahrscheinlich. Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk. Vielleicht hatte er sie auch zu einer Untersuchung im Royal Victoria begleitet. Vera biss die Zähne zusammen und ließ ihn
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