Totenblüte
Vera wusste schon damals, dass das nur ein Vorwand war. Er präparierte ausgestopfte Vögel, meist Sumpf- oder Wasservögel, und sein eigentliches Interesse galt Greifvögeln – eine Trophäe für jeden Wildhüter, dem es gelang, einen zu erlegen. Auch das, dachte sie, war eine Form von Kunst. Am Ende seines Lebens war diese Art des Präparierens längst illegal, was Hector aber nicht weiter störte. Im Gegenteil, der Umstand, dass er etwas Verbotenes tat, machte seine Freude nur noch größer. Er sammelte auch Eier. Nach seinem Tod hatte Vera die ganze Sammlung verbrannt. Ein riesiges Feuer draußen im Garten. Sie hatte seinen Lieblings-Malt dazu getrunkenund festgestellt, dass sie gar nicht um ihn trauerte. Sie war einfach nur erleichtert, dass er fort war.
«Seit wann arbeiten Sie schon hier?», fragte Ashworth Stringer.
«Seit ich mit der Schule fertig bin.»
«Muss man für diese Arbeit denn nicht studiert haben?»
«Ich habe als Lehrling angefangen.» Stringer schwieg einen Augenblick. «Ich hatte Glück. Peter kennt den Kurator und hat ein gutes Wort für mich eingelegt.»
«Doktor Calvert, meinen Sie?»
«Genau.»
«Dann kennen Sie ihn also schon lange?»
«Ja. Er hat mich zum Beringen ausgebildet. Da war ich fünfzehn.»
«Zum Beringen?»
«Da geht es um Zugvögelforschung. Die Vögel werden in Netzen oder Fallen gefangen und bekommen kleine Metallringe ums Bein. Wenn man sie später wieder fängt oder tot auffindet, kann man bestimmen, wann und wo sie ursprünglich beringt wurden.»
«Und Mr Parr und Mr Wright machen das auch, Beringen, meine ich? Haben Sie sich so kennengelernt?»
«Inzwischen beringen wir eigentlich kaum noch. Ich bin der Einzige, der überhaupt noch zur Beobachtungsstation an der Küste von Deepden fährt, und ich mache das auch längst nicht mehr so oft. Die anderen haben inzwischen andere Interessen. Aber wir sind immer noch gut befreundet. Und wir gehen immer noch zusammen Vögel beobachten.»
«Seevögel?» Vera mischte sich mit dieser Frage zum ersten Mal ins Gespräch ein.
Clive deutete ein Lächeln an. «Gary interessiert sich für Seevögel. Zur entsprechenden Jahreszeit verbringt er Stundenauf dem Ausguck. Ich glaube, das liegt daran, dass er von Natur aus faul ist. Ihn stört das Warten nicht. Er sagt, für ihn hat das was Meditatives.»
«Es muss ein großer Schock gewesen sein, als Sie am Freitag die Tote fanden.»
«O ja.»
«Für Sie vielleicht noch weniger als für die anderen», fuhr Vera fort. «Sie haben doch täglich mit dem Tod zu tun.»
«Ich arbeite mit den Kadavern von Vögeln und Tieren. Nicht mit den Leichen junger Frauen.»
«Nein. Nicht mit den Leichen hübscher junger Frauen.» Sie machte eine Pause. «Haben Sie eigentlich eine Freundin, Mr Stringer?»
Als sie ihn in Fox Mill zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr wie ein zu groß geratener, von frühzeitigem Haarausfall geplagter Schuljunge vorgekommen. Dieser Eindruck verstärkte sich jetzt, als er heftig errötete. Sie bekam fast Mitleid mit ihm.
«Nein», sagte er. «Ich habe keine Freundin.»
«Sind Sie homosexuell?»
«Nein.»
Sie sah ihn an, wartete darauf, dass er weitersprach.
«Ich finde es schwierig, auf Frauen zuzugehen», sagte er schließlich. «Wahrscheinlich bin ich zu schüchtern. Und ich komme auch nicht viel unter Menschen. Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Mein Vater starb, als ich noch klein war, und inzwischen ist meine Mutter sehr hinfällig. Sie hat niemanden außer mir.»
Am liebsten hätte Vera ihm geraten zuzusehen, dass er da so schnell wie möglich rauskam und sich ein eigenes Leben aufbaute, solange das noch ging. Aber das stand ihr nicht zu.
«Hat Doktor Calvert eine Freundin?»
Clive starrte sie entsetzt an. «Wie meinen Sie das denn?»
«Hat er eine Freundin? Eine Geliebte?»
«Natürlich nicht. Er ist doch mit Felicity verheiratet.»
«Das wird Sie jetzt vielleicht schockieren, Herzchen, aber viele verheiratete Männer haben Affären.»
«Peter nicht. Sie haben sie doch zusammen gesehen. Sie sind glücklich miteinander.»
Sie sind gute Schauspieler, dachte Vera. Und das ist keineswegs dasselbe.
Doch sie lächelte nur. «Tja», sagte sie. «Vielleicht haben Sie ja recht.» Dann bedeutete sie Ashworth, dass er die weiteren Fragen stellen solle.
«Haben Sie letzten Mittwoch gearbeitet?»
«Ja, bis halb fünf. Ich fange immer um acht an und soll eigentlich um vier Schluss machen, aber meistens wird es dann doch halb fünf, bis ich
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