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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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dass Lily Marsh auch anwesend wäre – ein schönes Gespenst, das sich zwischen sie drängte.
    Es war erstaunlich, welche Wirkung der Tod einer Wildfremden auf sie hatte. Felicity ermahnte sich, nicht hysterisch zu sein. Und doch schien ihr das Leben, das sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte – das Haus, der Garten, die glückliche Familie   –, plötzlich ungeheuer zerbrechlich. Sie sah es genau vor sich, wie Vera Stanhope das alles einfach zum Bersten brachte mit ihrer lauten, eindringlichen Stimme, den großen Füßen und den schweren Händen, die sie auf den Tisch stemmte. Mit ihren Fragen würde Vera alles ruinieren.
    Felicity warf einen Blick auf die Küchenuhr. Anstelle der Zahlen sah man Vögel auf dem Zifferblatt, und zu jeder vollen Stunde ertönte der entsprechende Vogelruf. Clive hatte Peter die Uhr irgendwann einmal aus Jux zum Geburtstag geschenkt. Felicity fand sie scheußlich, doch Peter hatte darauf bestanden, sie aufzuhängen. Jetzt war es kurz vor zwei. Noch mindestens vier Stunden, bis Peter nach Hause kam. Sie eilte nach oben, zog die Hose aus und einen Rock an, trug Lippenstift und einen Spritzer Parfum auf. Als der Zaunkönig aufhörte zu singen, hatte sie bereits die Autoschlüssel in der Hand und floh förmlich nach draußen.
    Sie hatte Samuel noch nie bei der Arbeit besucht. Sie wusste nicht einmal genau, wo sie ihn finden würde. Außerdem war sie sich sicher, dass ihm ihr spontanes Auftauchen nicht recht sein würde. Er hielt seine verschiedenen Lebensbereiche strikt voneinander getrennt. Aber sie konnte einfach nicht zu Hause sitzen, da würde sie verrückt werden. Sie hatte noch nie etwas von ihm verlangt. Er würde doch sicher begreifen, dass sie diesen Druck einfach nicht aushielt.
    Felicity fuhr die geraden, schmalen Straßen entlang und wurde noch gereizter, als ein Traktor vor ihr sie zwang, langsamer zu fahren. Der Wagen war nicht mehr neu, er hatte keine Klimaanlage. Sie fuhr mit offenen Fenstern, und die Sonne brannte ihr auf Arm und Schulter. In der Stadt parkte sie in einer Seitenstraße unweit der Bibliothek. Einen Augenblick blieb sie sitzen und dachte sich erneut, dass dieser Ausflug ein furchtbarer Fehler gewesen war. Samuel war ein kluger Mann. Wenn er es für angebracht gehalten hätte, sich mit ihr zu treffen und mögliche Strategien durchzusprechen, hätte er ihr das vorgeschlagen. Er würde ihren Besuch für eine überstürzte, unsinnige Aktion halten. Doch ihr Verlangen, ihn zu sehen, war so groß, dass ihr das alles egal war. Sie kurbelte die Autofenster hoch und stieg aus. Immerhin hatte sie ja einen Bibliotheksausweis. Es war ihr gutes Recht, dort zu sein.
    Drinnen im Gebäude war es kühler. Vor den öffentlichen Computern hockten zwei Studenten und ein älterer Mann. An der Ausleihe saß eine schlanke, nicht sehr gepflegte junge Frau in einer knittrigen Leinenhose und einer weißen Baumwollbluse. Sie lächelte, als Felicity zu ihr hinsah. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor. Vielleicht war es ja die Tochter einer der Frauen aus ihrem Lesezirkel.
    Der Lesezirkel hatte sie und Samuel zusammengebracht.Felicity liebte diese Gruppe, sie fand es jedes Mal wieder aufregend, ein neues Buch kennenzulernen, und als sie ein Jahr dabei war, hatte sie Samuel überredet, einen Gastvortrag zu halten. Ein leibhaftiger Autor, der Bücher veröffentlichte. Kurz vorher hatte die Gruppe seine neueste Kurzgeschichtensammlung gelesen, aber nicht recht gewusst, was sie davon halten sollten. Sie fanden die Geschichten deprimierend. Gut geschrieben, aber doch irgendwie ungesund und erschreckend. Eine der Frauen erklärte, sie hätte Albträume davon bekommen. Im Grunde hatten sie doch alle lieber ein Happy End. Doch als Samuel dann kam, zeigten sie sich viel aufgeschlossener. Sie ließen ihn in einem großen Ohrensessel am Kamin Platz nehmen. Das Treffen fand an diesem Tag bei einer bodenständigen, üppigen Frau statt, die als Physiotherapeutin arbeitete. Ihr Mann war Chirurg, und das Wohnzimmer wirkte recht hochherrschaftlich. Grün gestrichene Wände voller Gemälde, schwere, antike Möbel. Es war Februar und bitterkalt, die Vorhänge waren gegen die Kälte zugezogen. Die Zuhörerschaft war ausschließlich weiblich. Sie tranken Weißwein aus großen Gläsern. Und Samuel hatte sie alle bezaubert, er hatte ihnen das Gefühl vermittelt, dass ihre Meinung ihm wichtig war. Er erklärte ihnen die Struktur seiner Geschichten. Heutzutage sei alle Welt geradezu besessen von

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