Totenblüte
wegkomme.»
«Was haben Sie anschließend gemacht?»
«Ich bin nach Hause gegangen. Auf dem Weg war ich noch kurz einkaufen. Dann haben wir zusammen zu Abend gegessen. Mutter geht meist sehr früh ins Bett, so gegen neun. Ich war noch eine Weile auf und habe ferngesehen. Ich hatte mir einen Dokumentarfilm über den Regenwald auf Video aufgenommen. Mutter redet die ganze Zeit, wenn eine Sendung sie nicht interessiert.»
«Sie sind also nicht mehr ausgegangen?»
«Nein.»
«Sie erinnern sich aber sehr gut, was Sie an dem Abend gemacht haben», warf Vera ein.
«Ich habe eben ein gutes Gedächtnis. Ich merke mir Details, das sagte ich Ihnen ja schon am Freitag.»
«Fahren Sie Auto?»
«Ich kann schon fahren. Also, ich habe einen Führerschein. Aber es macht mir keinen Spaß. Irgendwie kriege ich nicht aus dem Kopf, wie gefährlich das ist. Und es schadet der Umwelt. Die Treibhausgase. Darum habe ich vor zwei Jahren beschlossen, das Auto abzuschaffen. Man kommt auch gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt. Außerdem habe ich ein Fahrrad.»
Vera spürte, dass Clive sich unwohl fühlte. Obwohl es dämmrig und kühl im Raum war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Er fingerte an dem Skalpell auf dem Brett vor sich herum. Sie ermahnte sich, seine Nervosität nicht vorschnell zu deuten. Wahrscheinlich hatte er seit Jahren keine so lange Unterhaltung mehr mit anderen Menschen geführt, außer vielleicht mit seiner Mutter. Wenn er mit seinen Freunden zusammen war, hörte er vermutlich eher zu, als dass er selbst erzählte. Sie versuchte, im leichten Plauderton weiterzusprechen. Seine Mutter war Klatsch und Tratsch sicher auch nicht abgeneigt.
«Hat Gary Ihnen denn von seiner neuen Freundin erzählt?»
Anscheinend war er überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel, er zögerte einen Moment mit der Antwort. «Von der hat er uns allen erzählt.» Er hielt erneut inne. «Nicht weiter ungewöhnlich. Es gibt ständig irgendeine neue Frau in seinem Leben. Und jedes Mal ist er völlig verrückt nach ihr. Etwa eine Woche lang. Gehalten hat sich aber keine.»
«Mir hat er gesagt, diesmal wäre es anders», sagte Vera.
Clive lächelte wieder. Es sah aus, als lächelte er ungefähr einmal im halben Jahr. «Das sagt er auch jedes Mal. Seit Emily weg ist, ist er auf der Suche nach einem Ersatz.»
«Emily?»
«Seine Verlobte. Sie hat ihn sitzenlassen.»
«Kennen Sie Julie, seine neueste Freundin?»
«Nein. Zu seinen Verabredungen nimmt er mich dann doch nicht mit.»
«Der Junge, der ermordet wurde, war ihr Sohn», sagte Vera. «Er wurde erdrosselt. Wie Lily Marsh.»
«Das tut mir leid.»
«Wahrscheinlich kennen Sie auch keine Familie Sharp, oder?», fragte sie weiter, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten.
«Davy Sharp wohnt bei uns in der Straße. Wenn er nicht gerade im Gefängnis sitzt.»
«Kannten Sie den Sohn, Thomas?»
«Ich habe ihn hin und wieder gesehen. Meine Mutter hat manchmal auf ihn aufgepasst, als er klein war. Sie war ganz vernarrt in ihn. Er war oft bei uns, wenn ich von der Arbeit kam. In letzter Zeit natürlich nicht mehr. Da war er ja schon alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.»
«Dann war sein Tod sicher ein schwerer Schlag für sie.»
«Ja, wir sind sogar zum Fluss gegangen. Sie hatte das mit den Blumen auf dem Wasser in den Nachrichten gesehen und wollte es sich anschauen. Ihm die letzte Ehre erweisen.» Clive schwieg. «Aber als wir ankamen, war da gar nicht mehr viel zu sehen. Die Flut hatte schon eingesetzt und die Blumen alle ins Meer geschwemmt.»
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da. Durchs offene Fenster hörte man eine Sirene, laute Stimmen.
«Erzählen Sie mir von Ihren Freunden», sagte Vera schließlich. «Von Gary, Peter und Samuel. Sie sind doch Freunde, oder? Sie scheinen einfach nicht viel gemeinsam zu haben, bis aufs Vögelbeobachten.»
«Sie sind wie eine Familie für mich.»
«Sie meinen, Gary und Sie sind die Kinder und Samuel und Peter Mama und Papa?»
«Das ist doch absurd!»
Vera überspannte den Bogen ganz bewusst. Sie wollte sehen, ob er die Kontrolle verlor. Er war wieder knallrot angelaufen.
«Also keine Familie», sagte sie. «Dann erzählen Sie mir mal, warum Sie sich so gut verstehen, was Sie über all die Jahre zusammengehalten hat.» Das interessierte sie wirklich. Mit Freundschaften kannte Vera sich nicht aus. Sie hatte ihre Kollegen, die Leute, mit denen sie aufgewachsen war, die in ihrer Nähe lebten – aber niemanden, dem
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