Totenblüte
Charakteren, sagte er, und Charaktere seien ja auch wichtig, keine Frage, aber wahrheitsgetreu über Menschen schreiben, die einem selbst ähnelten, oder über Leute, die man kannte, das könne ja schließlich jeder. Er selbst interessiere sich viel mehr für Ideen. Seine Themen spiegelten sich in der Struktur der Handlung. Ihm gehe es gar nicht so sehr darum, die Wirklichkeit abzubilden, vielmehr wolle er eine Welt schaffen, in der noch die abwegigsten Dinge möglich seien.
«Nur so kann man schließlich Gott spielen», sagte er.
Eine der Frauen hatte ihn gefragt, ob er dann nicht vielleicht eher Dichter sei als Romanautor. Und Samuel hatte erfreut gelächelt und erwidert: Ja, womöglich sei er das. Felicity war das alles viel zu hoch. Sie fragte sich, worüber sie bloß mit ihm reden sollte, wenn sie wieder allein waren.
«Aber wollen Sie denn nicht auch mal ein richtiges, langes Buch schreiben, um Geld damit zu verdienen?» Die Frage kam von einer Bäuerin, die massenweise Bücher verschlang, aber keinerlei literarischen Dünkel kannte. Sie interessierte sich nicht für Rezensionen oder Preise. Peinlich berührtes Schweigen senkte sich über den Raum. Die anderen Frauen befürchteten, er könnte sich angegriffen fühlen. Doch Samuel schien auch diese Frage zu gefallen.
«Wenn ich einen Roman schreiben würde», sagte er, «dann würde ich mich verraten. Ich bin nämlich gar kein so guter Autor. Mehr als fünftausend Wörter halte ich gar nicht durch.» Er sah zu Felicity hinüber und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. Der Widerschein des Feuers lag auf seinem Gesicht, die Frauen im Zimmer lachten. Sie spürte, dass sie ihn alle bewunderten.
Felicity hatte ihn zum Lesezirkel mitgenommen, und sie hatten vereinbart, dass sie ihn hinterher auch wieder nach Hause fahren würde. Als sie im Wagen saßen, schlug er vor, noch irgendwo etwas trinken zu gehen, und sie willigte ein. Das war sie ihm schuldig. Immerhin bewunderte man sie nun im Lesezirkel, weil sie ihn mit dorthin gebracht hatte. Im Pub war es laut und voll, und weder er noch sie hätten unter anderen Umständen einen Abend dort verbracht. Vielleicht waren sie ja dort gelandet, weil er so anonym wirkte. Sie saßen allein in eine Ecke gezwängt an einem kleinen Tisch.
Das Geständnis traf Felicity völlig unvorbereitet. Er griff nach ihren Händen und sagte ihr, er habe sich wohl in sie verliebt. Erst dachte sie, dass er das unmöglich ernst meinen konnte. Es musste ein Witz sein. Er hielt andere schließlich gern zum Narren. Dann sagte er, er wisse, dass nichts daraus werden könne, er sei ja Peters Freund, und Felicity wurde klar, dass er keinen Scherz machte. Sie fühlte sich unglaublich geschmeichelt und gerührt. Wie großherzig und ehrenhaft von ihm! Auf dem Parkplatz vor dem Pub, hinter dem sich die kahle, weite Berglandschaft erstreckte, zog sie ihn zu sich heran und küsste ihn. Der Nebel hatte sich als winzige Tropfen auf sein Haar und seine Jacke gelegt.
Später, vor seiner Haustür, fragte sie ihn: «Willst du mich nicht noch auf einen Kaffee hereinbitten?» Sie wusste ganz genau, was sie tat, hatte sich bereits vergegenwärtigt, was für Unterwäsche sie trug, und sich daran erinnert, dass sie sich am Morgen noch die Beine rasiert hatte. Er zögerte länger, als sie erwartet hatte. War die Freundschaft zu Peter etwa so wichtig, dass er ablehnen würde? Doch schließlich nickte er, hielt ihr die Tür auf, und als sie im Haus waren, nahm er sie bei der Hand. Das war vor fünf Jahren gewesen. Und seither waren sie ein Liebespaar. Sie verhielten sich äußerst diskret. Kein Telefonat, das nicht jeder mithören, keine E-Mails , die nicht auch Dritte lesen konnten. Alle paar Wochen trafen sie sich, meist in seinem hübschen, kleinen Haus in Morpeth, und diese Begegnungen unterschieden sich grundlegend von ihrer offiziellen Freundschaft, den gemeinsam besuchten Theater- oder Ballettvorstellungen. Bei diesen Verabredungen waren sie Freunde, kein Paar.
Doch selbst nach all den Jahren betrachtete Felicity diese Beziehung nicht als Affäre. Sie hatte nichts Romantischesan sich: keine Blumen, keine Geschenke, kein Abendessen bei Kerzenschein. Sie wusste, dass Samuel unter seinem schlechten Gewissen litt. Seit jenem ersten Abend hatte er nicht mehr von Liebe gesprochen. Und Felicity wäre nie auf den Gedanken gekommen, Peter zu verlassen. Er brauchte sie. Die Freude, die Erregung, die sie mit Samuel empfand, war wie ein Lohn, der ihr zustand,
Weitere Kostenlose Bücher