Totenblüte
leid.» Für Vera war Selbstmord schon immer die egoistischste Tat gewesen, die sie sich vorstellen konnte.
«Sie litt bereits unter Depressionen, als wir uns kennenlernten, aber mir ist nie klargeworden, wie verzweifelt sie wirklich war. Jetzt werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen.»
Er hatte sie in ein langes, schmales Zimmer geführt, das die ganze Breitseite des Hauses einnahm. Als er das Fenster öffnete, drang das Lied einer Drossel herein und der Duft nach frisch gemähtem Gras. Er wandte ihr den Rücken zu, während er an einer viktorianischen Kommode den Wein entkorkte, und Vera konnte nicht erkennen, ob er wirklich so ruhig war, wie er tat. Sie hätte ihn gern gefragt, wie seine Frau sich das Leben genommen hatte. Hatte sie sich ertränkt? Aber das war natürlich keine Frage, die man bei einem Glas australischem Shiraz stellte, und außerdem ließ sich das auch anders herausfinden. Es gab sicher ein Protokoll des Untersuchungsgerichts. Wo hatte sie sich wohl wegen ihrer Depressionen behandeln lassen? An der Wand hing das Foto einer Frau, lachend, mit zurückgelegtem Kopf. Ob das Claire war? Sonst sah Vera in dem Zimmer nichts, was auf seine verstorbene Frau hinwies.
Samuel Parr drehte sich um und reichte ihr ein großes Glas Wein. Vera deutete mit dem Kopf auf das Foto. «Sie war sehr hübsch.» Er sagte nichts darauf.
Vera setzte sich mit ihrem Wein auf das abgewetzte Chesterfieldsofa und wartete, dass er etwas sagen würde. Er verdiente sein Geld schließlich mit Geschichten. Sollte er doch anfangen.
«Es war ein furchtbarer Schock, die Leiche dieser jungen Frau zu finden», sagte er schließlich. «Als ich James schreien hörte, war ich erst einmal verärgert. Ich selbst hatte nieden Wunsch, Kinder zu haben, auch nicht, als Claire noch am Leben war. Ich weiß, dass wir eigentlich versuchen sollen, Kinder für unsere Bibliothek zu begeistern, aber meine Bemühungen in die Richtung sind offen gestanden etwas halbherzig. Kinder sind so laut. Und so anstrengend. Aber als wir dann die junge Frau sahen, ihr Haar, das auf dem Wasser trieb, und ihr Kleid … Ich musste gleich an ein präraffaelitisches Gemälde denken. Diese matten Farben in der Dämmerung. Vielleicht lag es aber auch daran, dass wir von oben auf sie herabgeschaut und sie nur aus der Ferne gesehen haben.»
«Sie glauben also, jemand hat das so inszeniert», sagte Vera. «So wie ein Maler sein Modell?»
«Ja.» Er schaute auf, sichtlich erstaunt, dass sie ihn sofort verstand. «Es war, als hätte sie jemand nicht nur töten, sondern auch noch etwas damit ausdrücken wollen.»
«Aber Sie haben sie nicht erkannt?»
«Nein.»
«Und jetzt, nachdem Sie etwas Zeit zum Nachdenken hatten, sind Sie da immer noch sicher, dass Sie ihr nie begegnet sind?»
«Sie wirkte so unecht auf mich», antwortete er. «Ich könnte das also nicht beschwören. Aber der Name sagt mir nichts.»
«Unter den persönlichen Gegenständen in ihrer Wohnung haben wir auch einen Benutzerausweis für die Northumberland Library gefunden.»
«Ich kenne nicht jeden Benutzer persönlich, Inspector.»
«Warum könnte sie diesen Bibliotheksausweis gehabt haben, wo sie doch in Newcastle gewohnt hat?»
«Wenn sie in Hepworth arbeitete, war unsere Zweigstelle dort vielleicht leichter zu erreichen als die Stadtbibliothek. Sie hat nur ein paar Stunden pro Woche geöffnet,liegt aber gleich neben der Schule. Oder sie wollte dort einfach ihre E-Mails abrufen.»
«Könnten Sie uns sagen, was für Bücher sie in letzter Zeit ausgeliehen hat?»
«Ist das denn wichtig?»
«Vermutlich nicht», sagte Vera. «Es interessiert mich einfach nur. Ich bin nun mal neugierig …» Sie lächelte ihn an. «Das haben Schriftsteller und Polizisten vermutlich gemeinsam.»
«Jetzt kann ich Ihnen das sicher nicht sagen, selbst wenn ich noch einmal ins Büro führe. Das Bibliothekssystem ist bereits heruntergefahren. Aber wenn Sie wollen, schaue ich morgen nach, ob sie noch entliehene Bücher auf ihrem Konto hat. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.»
«Glauben Sie, dass man Menschen nach dem beurteilen kann, was sie lesen?»
Samuel lachte. «Auf keinen Fall. Wir haben viele reizende alte Damen unter unseren Lesern, die die blutrünstigsten amerikanischen Thriller verschlingen.»
Vera stellte fest, dass sie es genoss, sich mit Samuel Parr zu unterhalten. Das lag sicher auch am Wein, doch Parr war einfach angenehme Gesellschaft. So unkompliziert. Dabei hatte sie einen
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