Totenblüte
mir aufgefallen wäre. Aber ich bin einfach davon ausgegangen, dass er für mich ist.» Sie sah Vera an, die mit gerunzelter Stirn am Tisch saß. «Er muss am Freitag mit den übrigen Karten gekommen sein, da bin ich mir sicher. Ist das denn wichtig?»
«Wahrscheinlich nicht, Herzchen. Aber schauen wir doch mal, was draufsteht. Sie haben nicht zufällig so was wie eine Pinzette für mich?»
Froh darüber, etwas tun zu können, ging Julie nach oben, um die Pinzette zu holen. Ihre Mutter war im Bad. Julie hörte Wasser rauschen, dann das Zischen des Putzsprays. Ihre Mutter putzte die Badewanne täglich, beugte sich darüber und schrubbte so heftig, dass man schon meinen konnte, die Farbe müsste am Putzlappen kleben bleiben. Doch es half nichts. Julie konnte sie immer noch nicht benutzen. Immerhin war die Badezimmertür zu, und Julie musste nicht erklären, was sie vorhatte. Als sie wieder in der Küche war, griff Vera vorsichtig eine Ecke der Karte mit der Pinzette und drehte sie um. Die Rückseite war leer.
«Irgendein Witz vielleicht», meinte Julie.
«Ja. Vielleicht. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die Karte mit und lasse sie prüfen.»
Julie verspürte einen Anflug von Neugier, der aber sofort wieder verschwand. Letztlich war es doch ohnehin egal, was die Polizei tat. Sie schaltete den Wasserkocher ein, um Vera einen Kaffee zu machen, und als sie sich mit dem Becher in der Hand wieder zum Tisch umdrehte, waren Karte und Umschlag verschwunden.
«Sie haben gesagt, Sie hätten noch ein paar Fragen?» Julie interessierte sich nicht weiter für diese Fragen, wollte das alles nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Aber warum eigentlich? Um sich wieder ihren Träumen von sinnloser Metal-Musik und einem Jungen hinzugeben, mit dem sie, als sie sechs Jahre alt gewesen war, auf dem Schulhof gespielt hatte? Sie öffnete die Keksdose und stellte sie auf den Tisch. Vera nahm sich einen Schokoladenkeks, tunkte ihn in den Kaffee und biss dann rasch ab, ehe das aufgeweichte Stück herunterfallen konnte.
«Hatte Luke eigentlich einen Sozialarbeiter?»
«Da war eine Frau, die manchmal vorbeikam, als er seine ersten Probleme in der Schule hatte. So eine neugierige Ziege.» Julie hatte seit Jahren nicht mehr an die Frau gedacht. Sie hatte eine Schwäche für lange Strickjacken, derbe Schuhe und dicke Strumpfhosen in merkwürdigen Farben gehabt. Und ein dickes Muttermal an der Nase. Julie hatte sie damals im Stillen immer nur «die Hexe» genannt. «Ich weiß aber nicht mehr, wie sie hieß.»
«Und in letzter Zeit gab es niemanden?»
«Ich brauchte keine Sozialarbeiter. Ich bin bestens zurechtgekommen.» Sie musterte Vera misstrauisch. «Und ich kann auch jetzt keinen brauchen, der sich einmischt. Es ist schon schlimm genug, meine Mutter ständig hierzuhaben.»
«Ich weiß, dass Sie gut zurechtkommen», sagte Vera, und Julie hörte ihr an, dass sie das ernst meinte. «Aber wir suchen immer noch nach Verbindungen zwischen Luke und dieser jungen Frau, die ebenfalls ermordet wurde. So finden wir vielleicht eher heraus, was passiert ist. Haben Sie mal mit einem der Sozialarbeiter im Krankenhaus gesprochen?»
«Ich glaube nicht. Aber möglich ist das natürlich schon.Das ist ja kein richtiges Krankenhaus, wo die Schwestern weiße Uniformen tragen und man immer gleich weiß, wer wer ist. Die sahen irgendwie alle gleich aus, Ärzte, Schwestern, Psychologen … Und sie waren alle so jung, dass man meinte, sie könnten gerade erst mit der Schule fertig sein. Sie hatten Namensschilder, aber da habe ich meist gar nicht draufgeschaut. Ich hatte schon genug im Kopf, da konnte ich mir nicht auch noch Namen merken. Und jedes Mal, wenn ich hinkam, war wieder jemand anders zuständig.»
«Hier geht es um einen jungen Mann», sagte Vera. «Relativ frisch von der Uni. Er heißt Ben Craven. Sagt Ihnen der Name etwas?»
Julie wollte ja mithelfen. Sie wollte, dass Vera mit ihr zufrieden war – doch wenn sie an die Besuche im Krankenhaus zurückdachte, war alles ein einziger Nebel. Sie erinnerte sich nur noch an den Geruch – kalter Zigarettenrauch und abgestandenes Essen – und an Lukes riesengroße, gequälte Augen. «Es tut mir leid», sagte sie. «Es kann schon sein, dass jemand so hieß. Ich weiß es einfach nicht.»
«Aber er war niemals hier?»
«Nein.» Da war sich Julie völlig sicher. «Hier war ganz sicher niemand, der so hieß. Zumindest nicht, wenn ich auch da war.»
«Und wenn jemand vorbeigekommen
Weitere Kostenlose Bücher