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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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unsere Justiz völlig überlastet ist, und das wissen Sie so gut wie ich. Das System steht vor dem Kollaps: Hunderttausende von Strafverfahren jedes Jahr auf allen Gerichtsebenen, kein Staatsanwalt, der mit weniger als drei Dutzend Verfahren gleichzeitig jongliert, Hauptverhandlungen, die – wenn überhaupt – erst Monate nach der Anklageerhebung beginnen, Prozesse, die sich mit unzähligen Unterbrechungen endlos hinziehen, bis irgendwann irgendein Urteil gefällt wird, damit Schluss ist, einfach nur Schluss, bevor das Wort Gerechtigkeit bei allen Prozessbeteiligten nur noch ein höhnisches Grinsen auslöst. Vielleicht haben Sie recht, Mijnheer. Vielleicht ist ein Deal eine Kapitulation, für die wir uns schämen müssten. Vielleicht ist er aber auch das letzte kleine Bollwerk gegen eine Flut von Willkür, Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit. Undsollte es so sein, dann stört es mich gar nicht mehr besonders, dass wir uns da was von den Amis abgeschaut haben.«
    »Wenn die Flut ständig steigt, bietet ein kleines Bollwerk nicht lange Schutz«, sagte der Commissaris, »erst recht, wenn es das letzte ist. Vergessen Sie nicht, dass der größte Teil unseres Landes unter dem Meeresspiegel liegt, anders als Amerika. Und anders als von Amerika bleibt bei uns nicht mehr viel übrig, wenn wir erst mal überflutet werden. Die haben immer noch die Freiheitsstatue, die mit ihrer Fackel weithin sichtbar über das Wasser ragt, wenigstens ist das in den Science-Fiction-Filmen immer so. Wenn Holland untergeht, sieht man hinterher höchstens noch eine Windmühle. Und deswegen wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn die Leute sagen könnten: Das war eine von den holländischen Justizmühlen. Junge, haben die langsam gemahlen, aber dafür verdammt fein und genau! Finden Sie nicht, dass – so gesehen – das letzte Bollwerk groß und fest sein sollte, statt durch Kuhhandel und Mauscheleien zerlöchert? Sonst können wir in Zukunft ja gleich bei McDonald’s verhandeln und unser Urteil in einem Pappkarton mitnehmen!«
    Während Manhijmer noch zu überlegen schien, ob diese Bemerkung einen ernsthaften Kommentar verdiente, öffnete sich die Tür des Aufzugs am Ende des Gangs, und Brigadier Tambur verließ die Kabine, gefolgt von Ailing Wu und der Dolmetscherin. »Ah, da kommt ja die Frau meines Mandanten«, rief der Advocaat erleichtert. Er nickte dem Commissaris zu, begrüßte den inzwischen bei ihnen angelangten Staatsanwalt mit einem schnellen Händedruck und eilte anschließend mit wehender Robe auf die junge Chinesin zu, die ihm, als er auf sie und die Dolmetscherin einzureden begann, schweigend und mit leicht geneigtem Kopf zuhörte.
    Ailing trug ein rotes Seidenkostüm, bestehend aus einem eng anliegenden Rock und einem Bolerojäckchen, unter dem eine schwarze Seidenweste mit Perlmuttknöpfen ihren schmalen Oberkörper nachzeichnete. Ihre kleinen Füße steckten in ebenfalls schwarzen Riemchenstiefeletten, schwarze Strümpfe verhüllten die Beine. Sie war kaum geschminkt, damit die dunklen Augen besser zur Geltung kamen, nur die Lippen und etwas Rouge aufden Wangen; das Haar fiel in einem glänzenden Pferdeschwanz auf ihre linke Schulter. Ihre Hände waren leer, keine Handtasche, nichts, um all die Dinge aufzunehmen, die Frauen gemeinhin mit sich führten. Als wollte sie sagen: Ich verberge nichts und zaubere auch keine Überraschungen von irgendwo hervor. Aber warum dieses leuchtende Rot, dieses Zinnoberflackern bei jedem Schritt, das eher zu einer Bardame als zu der treuen, einsamen Frau aus den Briefen passte?
    Brigadier Tambur wirkte dagegen in ihrer blauen Uniform wie ein Werbeplakat für den gehobenen Polizeidienst: jung, wach, gepflegt, so wie Hoofdcommissaris Joodenbreest sie und überhaupt alle seine Beamten am liebsten jeden Tag gesehen hätte. Ihre lange dunkelblaue Hose wies scharfe Falten auf, die hellblaue Bluse schien vor Stärke zu knistern, und die goldenen Streifen auf den Schultern blitzten wie frisch poliert. »Sie sollten öfter Uniform tragen«, bemerkte sie, als sie den Commissaris erreichte. »Das ganze Blau und Gold steht ihnen, wirkt äußerst einschüchternd! Morgen, Mijnheer Piryns.«
    »Gehen wir rein«, sagte der Staatsanwalt.
    Der Gerichtsdiener schloss die Tür hinter ihnen, und sie gingen an den Reihen leerer Stühle vorbei nach vorn zu den Tischen der Anwälte. Als Zheng Wu seine Frau in dem roten Seidenkostüm erblickte, wurden seine Augen groß, nur sein Mund zog sich noch mehr zusammen. Eine

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