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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Windstoß gegen die Sprossen der Rahmen drückte. Am Ufer vor dem mächtigen, abweisenden Gebäude klammerten sich die letzten Blätter an die zitternden Äste der Ulmen, so wie sich in den hallenden Gängen die Lügner, die Diebe und Mörder an die Hoffnung auf Gerechtigkeit, einen Verfahrensfehler oder wenigstens ein mildes Urteil klammerten.
    Der Commissaris wusste, dass er nicht der Einzige war, der um den Glauben an die Worte heldenhaft, barmherzig und entschlossen ringen musste. Er fragte sich, wem von den Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern es wohl genauso ging wie ihm. Er fragte sich auch, wie viele der zahllosen Gutachter, Archivare, Dolmetscher, Schreiber, Gerichtsdiener, Wachtmeister und Sicherheitsbeamten, die tagtäglich die Verhandlungssäle, Aufzüge, Flure und Treppen des Paleis van Justitie bevölkerten, sich für heldenhaft, barmherzig und entschlossen hielten. Und er fragte sich, wer von den Klägern, Nebenklägern, Opfern oder Zeugen noch davon überzeugt war, dass in dem riesigen, vierstöckigen Labyrinth aus massivem Stein und dunklem Holz an der Prinsengracht Nummervierhundertsechsunddreißig tatsächlich dem Versprechen im Wappen ihrer Stadt Genüge getan wurde.
    Der Commissaris kannte alle Gänge, jede Treppe und sämtliche Säle. Er kannte auch die meisten Richter, viele der Staatsanwälte und zahlreiche Verteidiger. Er hatte Häftlinge hierher begleitet und sie wieder abgeholt, er hatte ihren Verfahren beigewohnt, und er hatte in mehr Prozessen ausgesagt, als er sich erinnern konnte: als Zeuge der Staatsanwaltschaft, als vorgesetzter Offizier seiner Beamten, als Sachverständiger. Er hatte ausgesagt, was er wusste oder was er gesehen hatte oder was bei Ermittlungen offenbar geworden war, aber nie, was er glaubte, weil es für ein Verfahren keine Rolle spielte, was oder woran er glaubte.
    Er ging an den Türen der Sitzungssäle vorbei, an den Bänken vor den Türen, den Angeklagten, Zeugen und Wachtmeistern auf den Bänken, den Angehörigen, den Anwälten. In jedem dieser Säle wurde ein anderes Stück aufgeführt, mehrmals am Tag, in großer oder kleiner Besetzung, mal als Kammerspiel mit eintönigen Monologen und holprigen Dialogen, mal als vielstimmige Oper mit dramatischen Arien und rührseligen Libretti. Aber immer bot der Spielplan nur eine weitere Inszenierung der ältesten Geschichten der Welt: noch ein Kapitel über das Töten, das Stehlen, das Lügen und Betrügen, über gebrochene Gebote und begangene Todsünden, und alle Täter waren Schauspieler, die an nichts mehr glaubten oder an das Falsche.
    Auch Zheng Wu glaubte wahrscheinlich weder an Heldenmut noch an Barmherzigkeit, aber an Entschlossenheit hatte es ihm nicht gemangelt. Der Chinese saß in seinem Rollstuhl auf der Bank vor dem Verhandlungssaal, und bei ihm war der Wachtmeister, der ihn aus der Untersuchungshaft in den Justizpalast begleitet hatte. Der Wachtmeister stand hastig auf, als er den Commissaris erblickte, denn Van Leeuwen hatte für den Gerichtstermin extra seine dunkelblaue Uniform mit der goldenen Reichskrone und dem Lorbeerzweig in Gold auf den Schulterstücken angezogen.
    Mijnheer Wu trug den schwarzen Anzug, in dem er sich gestellt hatte, dazu ein frisches weißes Hemd mit einem schmalen,hochstehenden Kragen und die Turnschuhe, deren Schnürsenkel seinem Cousin zum Verhängnis geworden waren. Er sah dem Commissaris entgegen, und als er feststellte, dass Van Leeuwen allein war, zog sich sein Gesicht vor Enttäuschung zusammen. Seine Hände umklammerten die Armstützen des Rollstuhls so heftig, dass die Sehnen und Knöchel hervortraten wie das mechanische Innenleben eines Humanoiden. »Wo ist Ailing?«, fragte er, die Lippen blass und blutleer. »Wo ist Frau Wu?«
    »Sie ist unterwegs«, antwortete der Commissaris. »Meine Mitarbeiterin bringt sie gerade her.«
    »Ich möchte nicht, dass sie sagt etwas«, erklärte der Chinese. »Ich habe gestanden alles. Niemand muss mehr sagen etwas.«
    »Vielleicht gestatten Sie, dass ich als Ihr Verteidiger das eine oder andere Wort zum Besten gebe, Mijnheer Wu«, rief eine dröhnende Stimme hinter Van Leeuwen, und als er sie hörte, wusste der Commissaris, dass er die Antwort auf seine unausgesprochene Frage erhalten hatte: Oskar Manhijmer, fünfunddreißig Jahre alt, Advocaat, glaubte noch an die Worte auf dem Stadtwappen, denn er selbst war nach eigenem Bekunden nichts weniger als ihr Inbegriff und ihre Verkörperung; er war heldenmütig, barmherzig und

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