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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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fiel. »OhGott, ich muss los.« Sie nahm die Baskenmütze ab und fuhr sich durch das lange kastanienbraune Haar, das sie heute nicht zum Zopf geflochten trug. »Was ich dem Hoofdcommissaris sage? Lassen Sie sich überraschen, Sie werden auch das überleben! Haben Sie das nicht mal gesagt – ich bin ein Überlebender des Happy Ends? « Sie reichte Van Leeuwen die Hand. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Commissaris.« Sie trat einen Schritt zurück, als wollte sie sich ihn noch einmal vom Scheitel bis zur Sohle einprägen. Dann setzte sie die Mütze wieder auf, drehte sich um und überquerte die Straße, begleitet von einem raschelnden Wirbel goldener und scharlachroter Blätter, die um ihre Beine kreisten, als gäbe es dort, wo sie ging, einen Sog aus Wind und Licht.
    Woher weiß sie das?, dachte der Commissaris. Woher weiß sie, was ich vor einer Ewigkeit mal gesagt habe?

31
    »Herrgott – die sind ja überall! Im ganzen Land!«, sagte Brigadier Tambur. Sie stand vor der magnetischen Landkarte in Van Leeuwens Büro, und ihre Stimme klang so fassungslos wie die eines Arztes, der auf dem Monitor eines Computertomografen erkennen muss, dass sein Patient im Begriff stand, beide Gehirnhälften an blindwütig metastasierende Krebstumore zu verlieren. »Den Haag, Leiden, Hilversum, und da: Arnheim, Delft, Nimwegen – wirklich überall!«
    Der Commissaris stand neben ihr, Hoofdinspecteur Gallo und Inspecteur Vreeling auch, und alle starrten auf die Magnetkarte mit dem wachsenden Schwarm roter Metallknöpfe. Die meisten Knöpfe konzentrierten sich auf Amsterdam und das umliegende Land und noch ein paar auf Rotterdam, aber nach oben in Richtung Apeldoorn und Deveter wurden es weniger. Zwischen Deveter und Zwolle gab es nur noch zwei und dann einen letzten in der Gegend von Steenwijk.
    Der Commissaris trat einen Schritt zurück und versuchte, nurdie roten Punkte zu sehen – die Gruppierungen, die sie bildeten, die abstrakten Formen. Er stellte sich einen Rorschachtest vor, die Tintenkleckse und schwarzen Flecken, die eine gedankliche Assoziation im Betrachter auslösen sollen. Er starrte die Punkte so lange an, bis sie unscharf wurden und miteinander zu verschmelzen schienen. Aber nach ein paar Sekunden lösten die verschmolzenen Gruppen sich wieder zu einzelnen Punkten auf, und nichts sonst geschah.
    »Reden wir über die neu dazugekommenen Fälle«, meinte er, ohne den Blick von der Karte und den Metallknöpfen zu lösen. »Leon Raven …«
    Hoofdinspecteur Gallo schlug eine Klarsichtmappe auf und las vor: »Leon Raven war siebzehn, als er starb, am dritten Oktober vor drei Jahren. Er lebte in einem Vorort von Arnheim. Er war heroinabhängig und HIV -positiv. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, in Portugal. Er hatte eine kleine Schwester, Carice, neun, die aus dem Heim weglief, um bei ihm zu sein. Sie spielte mit seiner Nadel herum, als er wieder mal weggetreten war, und verletzte sich damit, und die Ärzte stellten fest, dass sie sich infiziert hatte und wahrscheinlich keine zehn mehr werden würde. Leon versuchte wiederholt, sich umzubringen, aber es ging immer schief; jedes Mal wurde er gefunden und gerettet, einmal von Carice, als sie erneut aus dem Heim getürmt war. Er starb, so wurde es zumindest diagnostiziert, an Herzversagen. Der Arzt, der damals den Totenschein ausgestellt hat, meint jetzt jedoch, er könnte auch erstickt sein.«
    »Lisa de Vries«, sagte der Commissaris.
    »Lisa de Vries aus Delft war sechsundvierzig, als ihre Leiche gefunden wurde«, zitierte Brigadier Tambur mehr oder weniger frei vom Blatt einer ausgedruckten E-Mail der Pathologie in Delft. »Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes, mit dem sie fast zwanzig Jahre verheiratet gewesen war, herausgefunden, dass er mit einer anderen Frau drei Kinder hatte. Sie hatte selbst für ihr Leben gern Kinder haben wollen, war von ihm aber stets auf später vertröstet worden. Außerdem hatte sie herausgefunden, dass er während ihrerganzen Ehe immer wieder fremdgegangen war, ein halbes Dutzend Geliebte, von denen sie wusste, wahrscheinlich mehr, die er mit dem Geld ausgehalten hatte, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Und sie hatte herausgefunden, dass er ihr nichts als einen Berg Schulden hinterlassen hatte, Schulden ohne Ende, beim Finanzamt, bei einem Dutzend Gläubigern, bei jedem, der dem Ehepaar nahestand; dass ihr nichts mehr gehörte, dass sie keine Freunde mehr hatte und dass ihre eigene Familie ihr von

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