TotenEngel
sich langsam zwischen den eng stehenden Brückenpfeilern hindurch. An der Reling zeigten sich Frauen in Abendkleidern und Männer in weißen Jacketts, einige mit Champagnergläsern in den Händen. Die Turbinen übertönten jeden anderen Laut. Der Commissaris und Doktor Menardi sahen zu, wie der Liner majestätisch davonglitt und zwischen den Häusern der Stadt verschwand.
»Er hat seine Opfer aus Mitleid getötet?«, fragte die Psychologin. »Weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie leiden zu sehen?«
»Das nehmen wir an«, sagte Van Leeuwen und verschwieg, dass er bisher der Einzige war, der zu dieser Annahme neigte.
Die Psychologin zeichnete mit der Schuhspitze ein unsichtbares Muster auf die Steine, bedächtig, nachdenklich. Schließlich meinte sie: »Wenn wir davon ausgehen, dass Sie recht haben, dann handelt es sich um eine Form von Mitleid, die jede normale menschliche Empathie sprengt. Ein monströses, quälendes Mitleid!«
»Und wie entsteht ein derartiges Mitleid?«
»Wahrscheinlich durch etwas, das der Täter miterlebt hat oder das ihm widerfahren ist, vielleicht … nein, ganz sicher ein Akt von Gewalt. Dieser Akt von Gewalt muss ein tiefes Gefühl von Mitleid ausgelöst haben, das dann in ihm weiter und weiter gewachsen ist, bis er es in einem unerträglichen Ausmaß empfunden hat, einem Ausmaß, das ihn zum Handeln zwang.«
»Er ist also auch ein Opfer?«
Feline Menardi nickte. »Es könnte sein, dass er in seiner Kindheit fortgesetzter Gewalt oder einem einzigen schrecklichen Erlebnis ausgesetzt war, und deshalb hat er sich später in einem Beruf versucht, in dem er anderen Menschen helfen konnte – als Arzt, Krankenpfleger, Priester oder im sozialen Bereich –, bis er eines Tages merkte, dass Hilfe in manchen Fällen eben nicht hilft, nicht ausreicht.«
»Und als er das merkte, ist in ihm die Idee entstanden, die Menschen, für die er ein derartiges Mitleid empfand, zu töten?«, fragte der Commissaris. »Sie gewissermaßen aus ihrer in seinen Augen gleichfalls unerträglichen Lebenssituation zu erlösen?«
»Davor muss allerdings einige Zeit vergangen sein, in der sich der Druck auf ihn stetig erhöht hat«, pflichtete die Psychologin ihm bei. Sie sprach jetzt schneller, als finge sie an, sich für das Thema zu erwärmen. Eine Art Jagdfieber schien sie zu packen, und in ihre Augen trat ein neuer Glanz, der sie noch attraktiver machte. »Als er diesen Druck nicht mehr ertragen konnte, hat er dann jemanden getötet, zum ersten Mal. Aber das hat er nicht als Mord empfunden, sondern als Akt der Nächstenliebe. Danach dürfte dann wieder einige Zeit vergangen sein, bis er zum zweiten Mal getötet hat – sowie vermutlich am Anfang ohnehin längere Pausen zwischen seinen Morden verstrichen sind. Mit der Zeit, das liegt in der Natur dieser Serien, sind die Pausen dann kürzer geworden.«
»Wie kann es sein, dass so jemand jahrelang tötet, ohne auch nur das geringste Aufsehen zu erregen?«, hakte der Commissaris nach. »Selbst wenn seine Opfer bei einer oberflächlichen Untersuchung keine Auffälligkeiten aufweisen, was die Todesursache betrifft, müsste ein Mensch mit einer solchen Veranlagung doch auffallen!«
»Dass er bis jetzt unbemerkt getötet hat, könnte daran liegen, dass er seinen Tätigkeitsbereich ausgeweitet oder verlegt hat«, sagte Doktor Menardi. »Er reist – wenn nötig, weit. Denn es ergeht ihm wie uns allen: Je mehr er weiß, desto klarer wird ihm, wie wenig er weiß. Das Dilemma des modernen Menschen. Auf ihn angewandt, bedeutet das, je mehr er tötet, desto mehr weitet sich sein Blick, und er sieht, wie viele Menschen noch leiden, wie viele noch der Erlösung bedürfen, an wie vielen Orten. Dabei gibt er aber nur sein eigenes Leid weiter, die Gewalt, die er einmal erlitten hat. Er hat eine verkümmerte Seele, die sich von anderen verkümmerten Seelen angezogen fühlt. Und wenn er sie auslöscht, empfindet er für einen kurzen Moment Erleichterung von seiner eigenen Qual, sogar Freude oder eine Art Glück.«
Die beiden Holzflügel der Magere Brug senkten sich wieder über den Fluss und vereinigten sich in der Mitte zu dem Sternbild einer kleinen bunten Brücke.
Der Commissaris drehte sich um und suchte die Gesichter der Passanten auf dem Amsteldijk ab, als könnte der Erlöser unter ihnen sein, auf der Suche nach Opfern. Plötzlich geschah es wieder: Er sah eine Frau, blond, in einem hellen Staubmantel, die ein Fahrrad über das Pflaster schob. Auf dem Gepäckträger
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