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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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polnische Küche?«
    »Ich bin nicht zum Essen hier«, erwiderte der Commissaris. »Ich möchte, dass Sie mir erzählen, wie Conrad Mueller gestorben ist.«
    »Er ist an dem Nachmittag gestorben, an dem er die Kinder gefunden hat«, sagte De Boer.
    »1983«, sagte der Commissaris, »am dritten Oktober?«
    »Nein, nein, das war 1966«, widersprach De Boer. »Er und die anderen wurden zu dem Brand gerufen. Ich dachte, Sie hätten schon mit den anderen gesprochen.« Er griff nach einer Klingel, die auf dem Tisch stand, und schüttelte sie heftig. »Setzen Sie sich doch«, meinte er. »Sie haben bestimmt Hunger! Meine Frau ist tot, aber ich habe eine Haushälterin. Das Essen muss gleich fertig sein. Es gibt Piroggen. Sonia kommt aus Krakau, das ist in Polen. In der Toilette im Flur können Sie sich die Hände waschen.« Zum ersten Mal sah er den Commissaris mit wässerigen blauen Augen direkt an, und Van Leeuwen begriff, dass De Boer für seine Auskunft etwas haben wollte, das leicht zu geben war.
    Der Commissaris wusch sich die Hände, und als er ins Zimmer zurückkehrte, hatte die Haushälterin den Tisch gedeckt. Die mit gebratenem Brühfleisch und Zwiebeln gefüllten Teigtaschen dufteten würzig. Van Leeuwen setzte sich. Der alte Feuerwehrmann aßhastig, eine Gabel voll und noch eine. Nach ein paar Bissen verzog sich sein Mund, und er ließ die Gabel auf den Tellerrand klirren. Er seufzte. »Angebrannt!«, stieß er hervor, dann rief er: »Sonia!«
    Die Haushälterin erschien in der Tür. »Die pierogi sind versalzen!«, raunzte De Boer. »Versalzen und angebrannt! Und dann auch noch mit Margarine bestrichen!«
    »Womit hätte ich sie denn sonst bestreichen sollen?«, fragte die Haushälterin mürrisch.
    »Brandsalbe!« Der alte Feuerwehrmann schüttelte den Kopf und aß weiter. »Wo waren wir stehen geblieben?«
    »Conrad Mueller und die anderen Männer, die mit ihm Dienst hatten, wurden zu einem Brand gerufen«, erinnerte der Commissaris De Boer. »Waren Sie auch dabei?«
    »Nein, meine Schicht war schon zu Ende«, antwortete De Boer. »Ich habe am Abend davon gehört. Jeder hat davon gehört, es wurde über nichts anderes geredet an dem Abend und die ganzen nächsten Tage. Genau genommen wurde jahrelang über nichts anderes geredet als über den Balkon mit den toten Kindern. Und als die Frau dann vor Gericht gestellt wurde, ging das Ganze wieder von vorn los, nur nicht für Mueller, der hat auch ohne das immer wieder davon angefangen, bis zu seinem Tod. Er konnte es einfach nicht vergessen. Er wusste, dass er es nie vergessen würde, solange er lebte. Deswegen wollte er ja sterben. Wegen der Kinder in den Blumentöpfen.«
    Das Gemälde in Van der Meers Büro: Babys, die in Blumentöpfen steckten.
    Der alte Feuerwehrmann wischte sich den Mund ab und ließ den Teller halb leer gegessen stehen. »Haben Sie davon nichts gehört? Es war in allen Zeitungen, und im Fernsehen. An so was muss sich ein Polizeibeamter doch erinnern …«
    »1966 war ich kein Polizeibeamter«, erwiderte Van Leeuwen. »Ich war dreizehn Jahre alt, und da, wo ich herkomme, las man nicht viele Zeitungen, und Fernsehen gab es schon gar nicht.« Ich war in ein blondes Mädchen in einem roten Anorak verliebt, dachte er, das im strömenden Regen auf einem Fahrrad vorbeifuhr.
    »Das war eine der Sachen, die man nie vergisst«, fuhr De Boer leise fort, »niemand, der ein Mensch sein will – selbst wenn Mueller nicht dauernd davon gesprochen hätte. Seine Frau konnte es nicht mehr ertragen, irgendwann ist sie auf und davon, und sogar sein Sohn … Ich habe gehört, er hat ihn manchmal mitten in der Nacht geweckt, um ihm davon zu erzählen. Selbst als der Junge noch klein war, hat er ihn geweckt, weil er mit irgendjemand reden musste, weil er es nicht mehr allein ertrug. Wissen Sie, wie die, die in den Lagern waren und Angst hatten, dass die Menschen vergessen könnten. Dass sie alles vergessen. Tja, und irgendwann konnte der Junge es nicht mehr hören. Er bekam Angst vor den Nächten, in denen er geweckt wurde und in denen sein Vater bei ihm auf der Bettkante saß und sagte: Ich ersticke, ich kann nicht mehr …«
    De Boer betrachtete seinen Teller, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Schließlich stand er auf, holte eine Flasche Genever und zwei Gläser aus einer Glasvitrine zwischen den Fenstern und stellte sie auf den Tisch. »Zigarre?«, erkundigte er sich.
    Van Leeuwen winkte mit vollem Mund ab, denn ihm schmeckten die Piroggen. Zu der

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