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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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auf den Boden fallen, und er sah nichts anderes mehr und hörte auch nichts, und er war so vorsichtig, als müsste er eine Bombe entschärfen, und auf einmal kam unter der Erde ein kleiner Kopf zum Vorschein, der Schädel eines Babys. Er legt den Kopf frei, das Gesicht, die winzigen geschlossenen Augen, die kleine Nase, und als er zum Mund kommt, sieht er, dass die Lippen sich bewegen, sie geben leise, ächzende Laute von sich, und alle Kraft verlässt ihn. Er kann nur noch den Topf halten, aber sich selbst nicht mehr, er bricht in die Knie, da auf dem Balkon, so hat man es mir erzählt. Dabei reißt er einen anderen Blumentopf von der Balustrade. Der Topf fällt auf den Steinboden und zerspringt, und da, in der Erde, die zwischen den Wurzeln einer weißen Lilie hervorbröselt, liegt der Kadaver eines anderen Neugeborenen, aber das ist schon tot,das lebt nicht mehr. Es lebt nur das Baby in dem Topf, den Mueller in den Händen hält, den er umklammert. Es lebt und wimmert.«
    De Boer holte tief Luft; die Zigarre zwischen seinen Fingern war inzwischen ausgegangen. »Sie hatte es gerade erst begraben, lebendig, und vielleicht waren auch die anderen sieben noch lebendig gewesen, als sie sie in den Blumentöpfen auf ihrem Balkon verscharrt hatte. Sechs davon waren bereits zu Skeletten geworden. Sieben kleine Leichen, in deren Gesellschaft sie trank und rauchte und die Herbstsonne genoss wie im Kreis einer Familie. Das älteste Skelett war fünfzehn. Fünfzehn Jahre hatte es in der Erde gelegen, sagten die Gerichtsmediziner. Und Conrad – ich glaube, was ihn so fertiggemacht hat, war, dass er selbst gerade erst Vater geworden war, nur wenige Tage vorher. Das hat er seinem Sohn immer wieder erzählt, nachts, auf der Bettkante, dass der Junge, den er gerettet hatte, fast in seinem Alter war …«
    Babys, die aus Blumentöpfen wuchsen. Babys, die in blutigen Windeln über den Boden krochen. Babys, die in einen Fleischwolf gestopft wurden.
    Der Commissaris spürte, wie sein Nacken zu schmerzen begann, als wäre die Anstrengung, seinen Kopf zu halten, zu groß: den Kopf und die Bilder darin. Er trank den Genever in kleinen Schlucken, bis sein Glas ebenfalls leer war, und dann schenkte De Boer auch ihm nach, wogegen er nichts einzuwenden hatte. Der Genever schürte das Feuer des Zorns in seinem Inneren, das sich von selbst entzündet hatte, ohne dass es ihm aufgefallen war.
    Da saß er hier im Dunkeln, trank und lauschte der leisen Stimme des alten Feuerwehrmannes, der von den schrecklichen Taten einer einsamen, verwirrten Frau berichtete, und sein Zorn richtete sich gegen diese Frau als Stellvertreterin aller ungreifbaren Mächte, die nach Gutdünken in das Leben der Menschen eingriffen, es manipulierten, in neue Kanäle lenkten oder, je nach Gegebenheiten, auch beendeten. Nein, nicht Mächte, verbesserte er sich – Menschen, die alles befleckten und am meisten sich selbst. Menschen, die sich in Mörder verwandelten, aus welchen Gründen auch immer.
    Das Zimmer wurde jetzt nur noch durch das schwache Licht erleuchtet, das aus der Küche in die Diele fiel. Van Leeuwen spürte, wie das Handy in der Brusttasche seines Jacketts vibrierte. Jetzt nicht , dachte er. Er blickte auf die Uhr, aber er konnte die Zeiger nicht erkennen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, holte das Handy heraus und sah, dass es Gallo war, der ihn zu erreichen versuchte. Er schaltete den Apparat aus. »Was wurde aus dem Kind?«, fragte er.
    De Boer beugte sich vor, suchte die Streichhölzer auf dem Tisch und zündete die Zigarre wieder an. »Die Männer brachten es ins Krankenhaus, wo es in einen Brutkasten kam oder was immer man mit Babys macht, die ihre Mutter kurz nach der Geburt unter einer Decke erstickt und dann in einem Blumentopf begräbt. Eine Zeit lang stand es auf der Kippe, aber der Lebenswille war sehr stark. Der Junge hat es geschafft.«
    »Und als Conrad Mueller starb, war er allein?«, fragte der Commissaris. »Seine Frau und sein Sohn hatten ihn verlassen?«
    »Sein Sohn kam noch manchmal, in den Ferien.« Die Zigarrenglut leuchtete auf und wurde schwächer und leuchtete wieder auf.
    »Wissen Sie vielleicht, wo sie sich jetzt aufhalten?«
    »Ich habe gehört, die Frau wäre inzwischen auch tot. Und der Sohn – keine Ahnung …«
    »Mueller ist kein seltener Name. Wie hieß der Junge mit Vornamen?«
    »Roelof, glaube ich. Ja, Roelof Mueller. Aber wenn Sie nicht deswegen gekommen sind, wenn Sie nicht wegen der toten Kinder mit mir über

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