TotenEngel
Wasser aufgehalten, wo er einem unerträglichen Druck ausgesetzt gewesen wäre, bevor der Ozean ihn an den Strand gespült hätte. In seinem Kopf war etwas geplatzt und zerbrochen, und die kleinen Teilchen trieben lose durcheinander und stießen dabei immer wieder aneinander, und jedes Mal tat es weh.
Er lag da, bis er die Kraft hatte aufzustehen. Es regnete noch immer, und als er in den Überwachungsradius der Videokamera trat, zeigten die kleinen Zahlen rechts unten auf dem Monitor 21:56 Uhr.
36
Das Telefon klingelte kurz nach Mitternacht. Van Leeuwen war erst seit einer halben Stunde wieder zu Hause, und zehn Minuten davon hatte er darauf verwandt, ohne seine frisch eingegipste Hand eine Flasche Rotwein zu entkorken. Jetzt saß er mit der Flasche und einem Glas im dunklen Wohnzimmer und dachte an den Überfall in der Parkgarage. Was hat der Mörder davon, wenn er mich umbringt? , fragte er sich. Er muss doch wissen, dass unser Verdacht sofort auf ihn fällt – es sei denn, er denkt, wir würden immer noch im Dunkeln tappen.
Regen schlug gegen die Fensterscheiben, die unter den plötzlichen Windstößen ächzten. Die Böen peitschen die Äste der großen Ulme vor dem Haus, und das Licht der Straßenlaternen warf unruhige Schatten der Zweige an die Zimmerdecke. Der Regen klang hell, wenn er auf den Baum und das Pflaster schlug, aber auf dem Wasser der Gracht klang er dunkel.
Van Leeuwen trank zu schnell, um den Wein genießen zu können. Er trank gegen die Erinnerung an den Mordversuch und gegen die stechenden Schmerzen von dem Sehnenriss im Handgelenk. Er saß auf der Couch und trank und dachte nach. Er fragte sich, wo der Fehler lag, was an dem Bild nicht stimmte. Was konnte er sehen, wenn er sich nicht von den Details ablenken ließ? Wenn er den Zorn und das Gefühl der Demütigung darüber, mit einer Plastiktüte über dem Kopf in einem Parkhaus um sein Leben kämpfen zu müssen, vergaß – was sah er? Wenn er nicht mehr an die Fragen der an den Tatort gerufenen Kollegen dachte, nicht an die Notaufnahme im Krankenhaus und auch nicht an die Mannschaft vom Technischen Dienst, die gerade die Karosserie seines Wagens mitPinseln, Klebebändern und Halogenlampen auf Fingerabdrücke und mögliche DNA -Spuren absuchte – was sah er dann?
Er hatte ein Gefühl, als starrte er auf eins jener etwas aus der Mode gekommenen Suchbilder in alten Fernsehzeitungen, die unter einem Gewirr von Federstrichen einen Gegenstand, ein Gesicht oder ein Tier verbargen, das, hatte man es einmal entdeckt, die ganze Zeichnung beherrschte. Es gab eine Logik in alldem, das wusste er, doch es war eine andere Logik als die, nach der sie bisher gesucht hatten. Wenn sie erst entschlüsselt vor ihm lag, würde er feststellen, dass sich nicht einmal in den Notizbüchern Leonardo da Vincis Ideen und Gedankengänge klarer in schwarze Linien umgesetzt fanden.
Aber wessen Ideen, wessen Gedankengänge? Er war fast sicher, dass der Mann, mit dem er gekämpft hatte, nicht Jacobszoon gewesen sein konnte. Er hatte sich nicht wie Jacobszoon angefühlt. Noch vom Tatort aus hatte Van Leeuwen Hoofdinspecteur Gallo angerufen und ihn beauftragt, zur Wohnung des Psychologen zu fahren und festzustellen, wo er zur Zeit des Überfalls gewesen war.
Bloß, wenn es nicht Jacobszoon gewesen war, wer hatte ihn dann überfallen? Was hatte den Mörder dazu getrieben, von seinem Schema abzuweichen? Gab es überhaupt ein Schema, oder hatten sie sich alle getäuscht, Doktor Menardi eingeschlossen? Nach welchen Kriterien wählte der Täter seine Opfer aus? Auf diese Frage hatten sie noch gar keine Antwort gefunden. Warum tötete er einen Mann wie Gerrit Zuiker, wenn es doch bestimmt andere gab, denen es viel schlechter ging; die dringender der Erlösung bedurften? War die Antwort nur das Datum, nach dem er entschied, wen er tötete und wen er am Leben ließ, unter Berücksichtigung der Faktoren Gelegenheit oder Mangel an Gelegenheit an ebendiesem Tag?
Van Leeuwen leerte sein Glas mit einem großen Schluck und schenkte sich nach. Seit er gerade an Feline Menardi gedacht hatte, verspürte er den Drang, sie anzurufen, trotz der späten Stunde. Genau das war der Moment, in dem das Telefon klingelte, und auf einmal schlug sein Herz schneller. Vielleicht ist sie das! Er stand aufund ging, das Glas in der unverletzten Hand, in sein Büro, zu dem Apparat auf dem Schreibtisch. Er stellte das Glas ab, setzte sich und griff nach dem Hörer. »Hallo?«
»Mijnheer van Leeuwen?
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