TotenEngel
Kabine.«
Van Leeuwen wollte nicht, aber er konnte es sich nicht aussuchen; er wusste, dass er den Film sehen musste, weil auch Margriet davon gesprochen hatte. Er folgte dem Turnlehrer zu den Umkleidekabinen. Der Raum mit den Kabinen lag im Halbdunkel, denn auch hier gab es nur ein winziges Oberlicht. In der Luft hing ein Geruch von Schimmel, und am Ende der Kabinenreihe tröpfelte eine Dusche unregelmäßig vor sich hin.
Hoekstra trat zu einer langen Holzbank ohne Lehne, auf der neben einem Frotteetuch ein Laptop stand. Er klappte den Deckeldes Gerätes hoch, schaltete es an und ging online. »Die Segnungen des Internets«, sagte er. »Setzen Sie sich doch.«
»Ich stehe lieber«, sagte der Commissaris. Er sah zu, wie Hoekstra auf der Startseite von YouTube – Broadcast your own video im Suchfeld den Namen Zuiker eingab, und wenig später erschien ein schwarzes Feld, über dem in schwarzen Buchstaben Gerrit de dronkelap stand.
Hoekstra startete die Übertragung mit einem Click. »Das ist bei Gerrit zu Hause«, erklärte er.
Die Kamera wackelte unruhig, die Farben waren schlecht, und die Schärfe schwankte, aber man konnte noch genug erkennen, selbst in der Verkleinerung. Der Film war vom Hof des Fahrradverleihs aus gedreht worden, nach Anbruch der Dunkelheit. Van Leeuwen erkannte das schwach erleuchtete Wohnzimmer der Zuikers mit den vielen Blumen. Er konnte auch Margriet sehen und einen Mann, der betrunken hin und her schwankte, und das war Gerrit Zuiker, als er noch gelebt hatte. Zuiker torkelte mit einem Glas in der Hand durch den Raum, und Margriet ging neben ihm her und redete auf ihn ein. Aber man konnte nicht hören, was sie sagte, denn der Ton war ein einziges Rauschen. Dann fiel Gerrit hin und verschwand aus dem Bild. Sie stand nur da und sah auf ihn hinunter. Er rappelte sich wieder auf, und jetzt klangen einzelne verzerrte Worte aus dem Rauschen. »Einsam«, schrie Zuiker, und Margriet rief: »Was? Was?« Und er schrie wieder: »… einsam … ersticke …« Er schwenkte sein Glas, was dazu führte, dass er neuerlich das Gleichgewicht verlor und rückwärts in die Blumen stürzte. Die Kameralinse des Handys verlor den Focus, schwenkte zur Decke, und gleich darauf war der Film zu Ende.
»Noch mal von vorn?«, fragte Hoekstra.
»Nein«, sagte der Commissaris. »Ich habe genug gesehen. Wie hat Zuiker darauf reagiert?«
»Er war am Boden zerstört«, antwortete der Turnlehrer und blickte auf den gekachelten Boden des Umkleideraums, als könnte er dort noch Reste seines zerstörten Freundes erkennen. »Danach … danach hat er niemandem mehr vertraut. Er schämte sich, quältesich unablässig.« Er hob den Kopf und sah Van Leeuwen an. »Und dann fühlte er sich natürlich verfolgt, von seinen Schülern – er dachte, sie würden ihn auf Schritt und Tritt filmen und über ihn reden. Er könnte sie reden hören, meinte er, selbst wenn sie gar nichts sagten: Da geht der Säufer, der Feigling, der sogar von seiner Frau verachtet wird … Er konnte ihre Gedanken hören, und er hatte nichts anderes mehr im Kopf. Sie fingen an, ihn zu beherrschen, diese Jungen. Ich habe ihm erklärt, dass er sich das nur einbildet, doch er war nicht davon abzubringen. Es machte ihn ganz verrückt, er wurde regelrecht krank, und mit der Zeit wurde er dadurch unerträglich für alle.«
»Waren es nur die Schüler, von denen er sich verfolgt fühlte?«, hakte der Commissaris nach.
»Reicht das nicht?«
»Hat er nie etwas von einem Mann gesagt – einem Mann, der vor seinem Haus stand?«
»Nein, an einen Mann kann ich mich nicht erinnern.«
Der Commissaris ging ein paar Schritte von Hoekstra weg, die Hände in den Taschen des Trenchcoats, dann kehrte er wieder um und blieb stehen, wo er vorher gestanden hatte. Es fiel ihm jetzt nicht mehr schwer, sich in Gerrit Zuiker hineinzuversetzen. Er verstand sein Fieber, seine rastlosen Gedanken. Sie begleiteten ihn auf Schritt und Tritt, am Lehrerpult, auf dem Schulhof, im Lehrerzimmer, auf dem Heimweg und beim Anblick seiner Frau. Es gab kein Entrinnen für ihn, und jeden Tag fragte er sich, ob es bis an sein Lebensende so weitergehen würde. Er konnte nachts nicht schlafen, weil die Stimmen der Schüler in seinem Kopf kreisten, die Stimmen und die Bilder. Sie tickten in seinem Kopf wie ein Zeitzünder, sie tickten und tickten, die ganze Nacht hindurch, bis es endlich Morgen wurde. Ich bin all dem nicht mehr gewachsen, ich gehe unter, ich ersticke!
»Weiß man, wer den Film ins
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