TotenEngel
Netz gestellt hat?«, fragte der Commissaris.
»Es gab einen Verdacht.« Mit gerunzelter Stirn konsultierte Hoekstra die Taucheruhr an seinem kräftigen Handgelenk, alshätte er noch eine Verabredung, zu der er nicht zu spät kommen wollte.
»Fällt Ihnen vielleicht ein Schüler ein, mit dem Mijnheer Zuiker es besonders schwer hatte?«
»Ruud«, antwortete der Turnlehrer, ohne zu zögern. »Ruud Meijer. Wir glauben, dass er es auch war, der den Film ins Netz gestellt hat. Gerrit hat sich besonders um den Jungen gekümmert, er war sein Sorgenkind, aber er sprach immer mit großer Zuneigung von ihm.«
»Ist es in letzter Zeit zu irgendwelchen Zwischenfällen gekommen? Etwas, das sich zwischen den beiden ereignet hat?«
»Ja, Freitagmorgen erst.« Hoekstra zog die Stoppuhr aus der Tasche und drückte einen der Knöpfe am Gehäuse, wie um zu überprüfen, ob sie funktionierte. Das Ticken des Chronometers erfüllte den Raum. Dann drückte er den Knopf ein zweites Mal und steckte die Uhr in die Tasche zurück. »Es gab einen Streit zwischen einem Afrikaner und einem Türken; sie stritten sich um ein Handy, und plötzlich hatte einer von beiden ein Messer in der Hand. Gerrit sah nur das Blitzen der Klinge und ging sofort dazwischen, obwohl er gar keine Pausenaufsicht hatte. Aber als er bei den beiden war, hatte sich das Messer auch schon wieder in Luft aufgelöst. Ruud stand dabei und mischte sich ein, nannte Gerrit einen Säufer, der Sachen sieht, die gar nicht da sind. Er machte eine unglückliche Handbewegung, sodass seine Uhr blitzte wie vorher das Messer, und Gerrit zuckte zurück, als hätte Ruud ihn geschlagen. Jedenfalls fiel seine Brille zu Boden und zerbrach, und die anderen Schüler fingen an zu lachen. Der ganze Hof fing an zu lachen …«
»Was hat Zuiker da gemacht?«
»Er ist weggelaufen. Er rannte vom Hof, ins Lehrerzimmer. Er war furchtbar aufgeregt, suchte nach seiner Aktentasche, sah hinein, keine Ahnung, was er darin hatte …«
Eine Walther P 38, dachte Van Leeuwen. »Was haben Sie danach unternommen?«
»Wer?«
»Sie, seine Kollegen.«
»Nichts.« Hoekstra ging zur Tür des Umkleideraums, und Van Leeuwen schloss sich ihm an. In der Mitte der sonnendurchfluteten Halle bückte sich der Turnlehrer nach dem Ball, hob ihn auf und klemmte ihn sich unter den Arm. »Wir haben es an unserer Schule mit einem ziemlich explosiven Gemisch zu tun, besonders wenn es auf dem Pausenhof zu so einem Vorfall gekommen ist. Viele der Jugendlichen hier sind Problemkinder, die schon die Grundschule nur mit Ach und Krach geschafft haben. Ich will sie nicht gerade als völlig verwildert bezeichnen, aber in ihrer Haut stecken möchte ich auch nicht. Drogen, Sex und Gewalt, das ist das Dreigestirn, unter dem sie aufgewachsen sind. Einige von denen haben schon mit acht, neun oder zehn die härtesten Gewaltpornos gesehen, Streifen, bei denen wir weggucken würden, und so was überspielen die sich gegenseitig auf ihre Handys. Das Schlimmste daran ist, dass die Kids irgendwann denken, so ist das mit dem Sex, so macht man das, wie in den Pornos. Und mit dem Bild von Mann und Frau wachsen sie auf, das spielen sie in ihrer Freizeit nach, so wie wir früher Cowboy und Indianer gespielt haben. Und wenn es so weit ist, erwarten die Jungs von den Mädchen ganz selbstverständlich Pornosex, und die Mädchen denken, sie müssten diesen Erwartungen auch genügen.«
»Traurig«, murmelte van Leeuwen.
»Ja.« Hoekstra nickte. »Gerrit hat das auch gesagt.«
»Wo kann ich diesen Ruud Meijer finden?«
Das durchdringende Klingeln einer Pausenglocke schrillte in die Halle. Der Turnlehrer schaute noch einmal auf seine Armbanduhr. »Ich lasse ihn ausrufen, wenn Sie wollen. Der Unterricht geht weiter, und die Klassenzimmer sind jetzt alle besetzt. Das Lehrerzimmer ist auch nicht frei. Falls es Ihnen nichts ausmacht, schicke ich ihn raus und Sie können sich draußen mit ihm unterhalten.« Durch die offene Tür der Halle strömte eine Horde Dreizehn- und Vierzehnjähriger mit Sportbeuteln in den Händen.
»Gut.« Der Commissaris wandte sich zum Gehen. »Ach, eine Frage noch: Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag?«
»Ich? Zu Hause. Wieso?«
»Reine Routine«, meinte der Commissaris. »Das ist eine der Fragen, die ich immer stellen muss. Gibt es jemand, der das bezeugen kann?«
Hoekstra zögerte einen winzigen Moment, dann rieb er sich die Stirn, und Van Leeuwen beobachtete ihn und wusste, dass er jetzt eine Lüge zu hören
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