TotenEngel
vielleicht gibt es einen Mörder an dieser Schule.
Hoofdinspecteur Gallo fragte einen Mann, der die Pausenaufsicht führte, nach Pieter Hoekstra. Der Mann überlegte einen Moment. »Der Sportlehrer, den finden Sie dahinten, in der Turnhalle.«
»Und das Lehrerzimmer?«
»Erster Stock.«
Der Commissaris trennte sich von seiner Mannschaft und ging zu der Turnhalle hinter dem Hauptgebäude. Er konnte sich auch nicht erinnern, wie lange er in keiner Turnhalle mehr gewesen war, doch den Geruch von Schweiß, Bohnerwachs und mit Kunstleder bezogenen Bodenmatten erkannte er sofort wieder.
Die Halle war leer bis auf einen Mann in einem dunkelblauen Trainingsanzug, der im Kreis herumlief und dabei mit klatschenden Schlägen einen Handball neben sich hertrieb. In der anderen Hand hielt er ein Klemmbrett. Aus seiner rechten Hosentasche hing die Kordel einer Stoppuhr, und wenn er in das schräg durch die Oberlichter einfallende Sonnenlicht geriet, blitzte seine Armbanduhr auf. Er trug keinen Ehering.
»Mijnheer Hoekstra?«, rief der Commissaris. »Pieter Hoekstra?«
Der Mann warf den Ball mit einer Hand in die Luft und achtete nicht mehr darauf, wo er niederfiel. »Ja, bitte?«
»Bruno van Leeuwen, Kriminalpolizei«, stellte der Commissaris sich vor, während er durch die Halle auf Hoekstra zuging. Die elastischen Bodenbretter federten unter seinen Schritten. Er wich einem der von den Decken herabhängenden Seile aus und blieb am Rand einer Matte stehen.
»Ach ja.« Der Turnlehrer griff nach einem Handtuch, das über den Holzsprossen eines Kletterrosts an der Wand hing. Hoekstra war groß und kräftig, er besaß den Oberkörper eines Athleten und die scharfen Gesichtszüge eines Asketen. Das blonde Haar war strubbelig, aber sorgfältig geschnitten, ebenso sauber wie der Schnurrbart und die getrimmten Augenbrauen. Die Hand mit dem Klemmbrett sank herab, schlug gegen seinen Oberschenkel. »Eine Tragödie«, sagte er und schüttelte den Kopf, den Blick auf Van Leeuwens Ausweis gerichtet. »Aber wahrscheinlich musste es eines Tages so kommen.«
»Warum?«, fragte der Commissaris.
»Weil Gerrit die Welt nicht ertrug«, antwortete Hoekstra, »nicht so, wie sie ist. Gerrit empfand alles so tief, dass er nie begriff, wie die Leute einfach so dahinleben können, als existierte das ganze Leid auf der Welt nicht. Wie wir einfach so dahinleben konnten. Für ihn bestand das Leben nur noch aus Schmerz, der nach und nach alle Freude in ihm abtötete. Das versuchte er auch im Unterricht – den Jungen die Augen für das Leid zu öffnen, sie zur Anteilnahme zu bewegen.«
Von draußen drang der Lärm des Pausenhofs gedämpft herein, das Geschrei und die Musik, die rhythmischen Gangstas und Killas und Motherfuckas.
»War er ein guter Lehrer?«
Hoekstra überlegte, sein Blick wanderte zu den Kappen seiner Reeboks. »Ja und nein. Er wollte ein guter Lehrer sein. Genau genommen war das alles, was er je sein wollte: ein guter Lehrer, von dem seine Schüler etwas lernten, über die Welt, das Leben. Was das anging, war er sogar ziemlich ehrgeizig. Ein Idealist, für dendas Unterrichten fast etwas … etwas Religiöses hatte! Er war nicht wie viele andere bei uns, die einfach nur ihre Stunden runterreißen. Wir haben hier ziemlich viele Problemkinder, lernunwillig, geltungssüchtig und sogar gewalttätig. Mutwillige Jungen, die gern austesten, wie weit sie gehen können, wo ihre Grenzen liegen, ihre und die ihres Gegenübers; wie weit sie jemand treiben können. Er dachte, er könnte ihr Vertrauen gewinnen, sie zur Einsicht bringen und durch Vernunft erziehen, damit sie nicht den Rest ihres Lebens auf der Schwelle zum Knast stehen oder auf Stütze angewiesen sind. Bei manchen schaffte er es sogar, und vielleicht wären es im Lauf der Zeit mehr geworden, aber er wusste nie, wann er Schluss machen musste. Er überforderte seine Zuhörer manchmal einfach, und in letzter Zeit hat er auch ziemlich viel getrunken. Und dann tauchte dieser Film im Internet auf …«
»Was für ein Film?«
Hoekstra hob das Klemmbrett und ließ es wieder sinken, eine Geste der Resignation. »Jemand hatte Gerrit mit einem Handy gefilmt, als er betrunken war.«
»Wo?«
»In seiner Wohnung, zusammen mit Margriet, seiner Frau. Bei YouTube kann jeder ihn sich ansehen, er steht immer noch im Netz …«
»Was ist auf dem Film zu sehen?«
Hoekstra deutete auf die Umkleidekabinen. »Wenn Sie wollen, schauen wir schnell mal rein. Ich habe meinen Laptop da hinten in der
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