TotenEngel
Anschein gehabt hatte. Seine Hände umklammerten die Armstützen des Rollstuhls. »Diese Briefe«, sagte er, »diese Briefe sind voller Lügen, nichts als Lügen, ja, ja?«
»Umso wichtiger ist es, dass wir die Wahrheit erfahren«, warf der Staatsanwalt ein. »Aber wer wird sie uns sagen, wenn Sie es nicht tun, Mijnheer Wu?«
Zheng Wu schüttelte heftig den Kopf, und kurz sah es so aus, als könnte das dunkle, augenlose Blatt seines Gesichts einfach weggeweht werden, hierhin und dorthin, in einem ziellosen Taumel. »Lügen«, rief er, »keine Wahrheit …«
»Wer wird uns dann die Wahrheit sagen, Mijnheer Wu? Wem können wir vertrauen?«, beharrte der Staatsanwalt.
Als die Frage lange genug im Raum stand, öffnete Zheng Wu endlich wieder die Augen, und in seinem Blick las der Commissaris eine solche Qual, dass er einen Herzschlag lang wegschauen musste, ehe er gebannt noch einmal hinsah, um diesen Schmerz ganz zu erkennen. Dann fragte er: »Seit wann ist das eigentlich so, dass Sie nicht mehr gehen können? Befinden Sie sich deswegen in Behandlung? Waren Sie überhaupt bei einem Arzt?« Er erhielt keine Antwort, und er hatte auch mit keiner gerechnet. »Ich frage mich selbst gelegentlich, wie viel Wahrheit ein Mensch überhaupt ertragen kann. Manchmal erfährt man etwas, und danach ist nichts mehr so, wie es vorher einmal war. Auf einmal kann man nicht mehr gehen, obwohl man sonst kerngesund ist, und kein Arztfindet die Ursache dafür. Und manchmal kann man auch nicht mehr reden, so sehr man es sich auch wünscht. Aber wie sieht denn die andere Seite aus – wie viel Unwahrheit kann ein Mensch ertragen? Die Wahrheit ist nämlich das Einzige, was wir haben, und egal, wie schäbig sie einem auch vorkommt, sie ist immer noch besser als alles, was man sonst ertragen müsste! Ja, manchmal verschlägt uns die Wahrheit den Atem und die Sprache, aber ohne sie …«
Als Zheng Wu weiter schwieg, schob der Staatsanwalt seinen Stuhl zurück und stand auf. Mit einer Hand griff er nach seinem Aktenkoffer, mit der anderen nach dem Gehstock und ging zur Tür. »Wir werden keine Männer nach China schicken, um die Wahrheit herauszufinden«, erklärte er. »Wir werden stattdessen unsere chinesischen Kollegen bitten, nach Fengdu zu gehen und uns Mevrouw Wu zu schicken. Wir werden Mijnheer Wu vor Gericht stellen, und seine Frau Ailing wird unter Eid als Zeugin aussagen, was zwischen ihr und dem Cousin ihres Mannes geschehen ist. Und dann werden wir ja wissen, ob die Wahrheit wirklich so unerträglich ist. Guten Tag.«
Anders ausgedrückt, dachte der Commissaris, wenn man kein Bild hat, braucht man tausend Worte.
Der Staatsanwalt verließ den Verhörraum, und Zheng Wu sah ihm nach, auf die Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann sah er Van Leeuwen an, als wäre auch er nichts anderes als eine Tür, die sich öffnete oder schloss, ohne dass er hindurchgehen konnte. Schließlich griff er in die Räder seines Rollstuhls, drehte ihn um und fuhr damit zu den Fenstern. Er schaute zwischen den Lamellen hindurch auf den Himmel, an dem es noch immer nichts zu sehen gab. Ein Laut erfüllte den Raum, und es war ein Laut, den Van Leeuwen lieber nicht gehört hätte, aber er konnte es sich nicht aussuchen. Zheng Wu schien gar nicht zu merken, dass er weinte.
14
Margriet Zuiker ging mit einer Gießkanne in der rechten Hand von Blume zu Blume, und als sie das ganze Spalier abgeschritten hatte, kehrte sie um und fing wieder von vorn an. Hier ungefähr muss Ruud gestanden haben, als er sie gefilmt hat, dachte der Commissaris, so dicht am Fenster . Er stand auf dem Hof des Fahrradverleihs vor dem großen Fenster zum Wohnraum der Zuikers, und nachdem er Margriet eine Weile zugesehen hatte, klopfte er an die Scheibe. Die junge Frau drehte sich um. Sie war ungeschminkt, und die Schnittwunden in ihrem Gesicht traten jetzt stärker hervor. Sie sah müde aus. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Sie versuchte es wieder, und als es diesmal auch nicht gelang, unternahm sie keinen dritten Versuch.
Der Commissaris ging durch den Torweg zum Hof zurück auf die Straße. Er klingelte, und einen Moment lang dachte er, Margriet würde ihm vielleicht nicht öffnen. Aber dann tat sie es doch, allerdings ohne etwas zu sagen. Wortlos verschwand sie durch den dunklen Korridor ins Wohnzimmer und verließ sich darauf, dass er ihr folgte und die Tür schloss. Vielleicht war es ihr auch egal. Sie trug eine fast farblos gewaschene Jeans
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