TotenEngel
und einen weiten, dunkelroten Männerpullover mit hochgekrempelten Ärmeln, aber keine Schuhe.
Im Wohnzimmer brannten mehrere Lampen, einige davon waren auf die Blumen gerichtet. Die nassen Blüten glänzten, als hätte es kürzlich geregnet. Rote Pollendochte ragten wie winzige Zungen aus dem Grün üppigen Blattwerks. Der süße Duft hing noch immer in der Luft, doch jetzt war er herber und durchmischt mit einem Geruch, den der Commissaris nicht einordnen konnte. Unter einige Töpfe waren die aufgeschlagenen Seiten einer alten Ausgabe des NRC Handelsblad geschoben. Darauf lag ein Paar roter Gummihandschuhe inmitten abgeschnittener Blätter und kleiner Häufchen verschütteter Erde.
Der Commissaris hielt Ausschau nach den winzigen Spiegelsplittern auf dem Boden, konnte jedoch keine mehr entdecken.Die Schreibtische waren noch immer überladen mit Heften, Büchern und Zeitungen. Auf einem stand jetzt ein Kofferradio, das klassische Musik spielte. Ein Klavier wetteiferte mit zwei Streichinstrumenten darum, wer schneller spielen konnte.
»Ich habe gehört, Sie waren in der Schule«, sagte Margriet. »Bei Gerrits Kollegen.«
»Nur bei einem«, antwortete Van Leeuwen. »Bei Pieter Hoekstra.«
»Ja, Pieter, er und Gerrit … sie waren Freunde.«
»Und was waren Sie und Pieter?«
Margriet Zuiker stellte die Gießkanne neben einen Plastiksack mit Blumenerde. »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee? Tee? Ein Wasser?«
»Nein, danke.«
»Wollen Sie sich nicht wenigstens setzen?«
»Ich stehe lieber.« Van Leeuwen betrachtete den Zellophansack, der stabil genug war, das Gewicht der Erde zu halten. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Was waren Sie und Pieter Hoekstra?«
»Das verstehe ich nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich verstehe Sie nicht.« Ihre Stimme wurde heller, fast schrill, und sie warf den Kopf zurück wie ein scheuendes Pferd.
»Ich frage nach Ihrem Verhältnis zu Pieter. Oder sollte ich sagen mit Pieter?«
»Hat er das – hat er so was behauptet?«
»Nein. Einer der Schüler Ihres Mannes.«
»Einer der Schüler? Dann ist es bald ja überall rum – oh, Gott …« Margriet begann, an der Haut unter ihrem Kehlkopf zu zupfen. Sie ging ein paar Schritte, machte abrupt kehrt und ging dieselbe Anzahl von Schritten wieder zurück. Dann blieb sie mit geschlossenen Augen stehen, wo sie vorher gestanden hatte, hörte aber auf, an ihrem Hals zu zupfen. Stattdessen rieb sie sich mit der linken Hand heftig die Stirn, als wollte sie ein unsichtbares Mal entfernen. »Es war ein Fehler, das wusste ich von Anfang an … aber Pieter … Gerrit … Ich wollte doch nur – ich hatte das Gefühl, dassalles über mir zusammenbricht, das ganze Haus, mein ganzes Leben. Und Pieter war da, er hatte so etwas Starkes, Tröstliches. Das brauchte ich, ich brauchte Trost …«
»Trost ist kein Therapeutikum, das nur in Kombination mit Ehebruch anschlägt«, entgegnete Van Leeuwen. Er hörte seine eigenen Worte, und wieder war er überrascht davon, dass es ihm nicht mehr ausmachte. Es ist vorbei, dachte er; es war das Schlimmste, was ihm passiert war, weil er nicht damit gerechnet hatte und weil er nie darüber reden konnte. Aber er brauchte sich bloß umzusehen: Es passierte dauernd, und die meisten konnten nicht darüber reden.
Margriet sprach weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. »Ich bin eine Frau, darum! Ich war einsam. Ich kann nicht allein sein, nicht lange jedenfalls, ich will, dass jemand mit mir redet, dass man mir sagt, dass ich ihm etwas bedeute, und ich will auch begehrt werden. Ist das so schlimm? Pieter hat mich begehrt, und er hat mir zugehört. Er hat meine Hand gehalten, wenn ich ihm etwas erzählt habe, und er hat mich wirklich gesehen, wenn er mich angeschaut hat, nicht nur seinen eigenen Schmerz. Ich interessiere mich nicht mehr für Schmerz und Leiden. Es gibt doch auch schöne Dinge im Leben, es kann Spaß machen, ja? Ich habe das Recht, glücklich zu sein, und mit Pieter war ich das … zeitweilig jedenfalls, immer wieder.« Sie hörte auf, das unsichtbare Mal von ihrer Stirn zu reiben. »Natürlich – natürlich habe ich mich auch manchmal geschämt. Einmal lag ich noch in Pieters Armen und dachte wieder an Gerrit und daran, wie schlecht es ihm ging, und dann wollte ich das alles nicht mehr …«
Ihre Stimme wechselte die Tonlage wieder und wieder, von hell zu dunkel, von leise zu laut und zurück, und manchmal schluchzte sie sogar mitten im Satz, aber ihre
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