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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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links vom Eingang Platz. Den Trenchcoat legte er neben sich auf die gepolsterte Bank. Er brauchte keine Karte, um zu wissen, was er essen wollte, und die Kellner in ihren gestärkten weißen Jacken brauchten ihn nicht mehr zu fragen. Außer ihm waren nur noch eine Handvoll andere Gäste im Raum, fünf Männer, die allein saßen, zwei Paare und drei Frauen, jede an einem Tisch weit weg von der anderen. Alle hatten Reisetaschen und Koffer neben sich stehen. Während Van Leeuwen auf seinen Hamburger mit Bratkartoffeln wartete, trank er ein Mineralwasser und sah dem Kakadu zu und dann wieder dem Regen, der jetzt stärker gegen die Fenster schlug. Keiner der Reisenden achtete auf ihn oder den Regen und nur eins der beiden Paare auf den Kakadu.
    Schließlich holte der Commissaris das Kuvert mit den Briefen aus der Innentasche seines Jacketts und legte es vor sich auf den Tisch. Es hilft nichts, dachte er; du kannst es dir nicht aussuchen. Die Übersetzung der Briefe war da, und jetzt musste er sie lesen. Sie hatten nichts mit ihm zu tun, das wusste er; es war nicht wie bei den Briefen, die er in Simones Koffer gefunden hatte. Es half ihm auch, dass es sich um eine Übersetzung handelte, die dazu noch mit Schreibmaschine getippt war.
    Mein geliebter Wu
    ich vermisse dich sehr, geliebter Wu, obwohl die ganze Familie nett zu mir ist, deine Brüder, deine Mutter und auch Cousin Jun. Aber ich spüre,
wie die Sehnsucht an mir zieht. Am Anfang war es eine süße Sehnsucht, doch nun wird sie von Nacht zu Nacht bitterer; sie rieselt wie Asche durch den
glühenden Rost deiner Abwesenheit. Tagsüber laufe ich mit blinden Augen durch die Straßen der Stadt, denn ich sehenur dein Bild
vor mir, sonst nichts. An manchen Abenden gehe ich in den Wald, und wenn der Wind in den Zweigen der Zedern rauscht, stelle ich mir vor, ich höre
deine Stimme. Sie flüstert, Ailing, Ailing, Ailing, und ein Schauer streicht mir über die Haut. Wann werde ich deine zarten Berührungen wieder
spüren können? Wann wirst du mich anrufen, um mir zu sagen: Komm schnell, Ailing, ich kann das Leben nicht mehr ertragen ohne dich?
    Und doch habe ich Angst vor diesem Tag, denn hier bin ich verwurzelt, und ein Teil von mir will immer da sein, wo der mächtige Yangtse ist –
selbst wenn er nun viele zerstörte Dörfer bedeckt und viele zerstörte Leben. Aber der größere Teil ist der, der dich liebt, der dir zur Frau
gegeben wurde und der sich nach deinem Geruch verzehrt und mit dir über Muschelstrände gehen will. Gibt es Muscheln dort, wo du bist, geliebter Wu?
    Der Commissaris überflog einige Absätze, in denen Ailing vom täglichen Leben in der kleinen Hütte bei Fengdu berichtete und beschrieb, wie es jedem Mitglied der großen Familie ging und einzelnen Haustieren auch, bevor sie Zheng Wu noch einmal ihre Liebe schwor und versprach, bald wieder zu schreiben. Als der Brief zu Ende war, las der Commissaris den nächsten und dann den übernächsten. In jedem schrieb Ailing von ihrer Sehnsucht, ihrer Angst und der Familie und den Haustieren.
    Doch allmählich veränderte sich der Ton der Briefe. Anfangs fast unmerklich verschwanden die Zedern, die Muscheln, die Haustiere und die Familie bis auf Cousin Jun. Jun Wu löste sich gewissermaßen aus dem Ensemble und trat in den Vordergrund, als gäbe es nur über ihn noch Interessantes zu berichten. Die Skizzen des täglichen Lebens fielen dürftiger aus, dafür wurden Sehnsucht und Liebe fast dringlich beschworen, umflort von Angst. Von Brief zu Brief war mehr über Jun Wu zu lesen, und nach und nach veränderte sich sein Bild.
    Offenbar gab es keine Arbeit in den Städten und Dörfernoberhalb des Staudamms, und Jun hatte viel Zeit. Er war sehr aufmerksam zu Ailing. Zunächst konnte man es wohl nur Aufmerksamkeit nennen – um von Zudringlichkeit sprechen zu können, hätte man zwischen den Zeilen lesen müssen. Dass sie ihn schlafend und nackt gesehen hatte, kam dann so überraschend, dass es fast wie ein Paukenschlag wirkte.
    Ich wünschte, ich wäre eine Muschel, abweisend von außen und schön und glatt nur von innen. Niemand soll mich ansehen und den Wunsch verspüren,
mich zu besitzen. Niemand soll von Lust gequält werden bei meinem Anblick. Wie konnte ich so dumm sein und nicht merken, was Jun im Schilde führt
– warum er mit mir zu den Zedern ging, über der Hütte, da, wo der kleine Bach den Hang herunterfließt? Er sagte, er fühle sich erhitzt und wolle
sich abkühlen, und dann kniete er am

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