TotenEngel
und eine Brille mit einem extravaganten, korallenroten Gestell, und sie schlug die Seiten schnell und heftig um, und jedes Mal klang es wie ein ferner Peitschenschlag.
Als der Kellner den Hamburger brachte, war das Fleisch genau so, wie es sein musste. Auch an den Kartoffeln gab es nichts auszusetzen. Van Leeuwen aß, und als er fast fertig war, ließ der Regen nach, und hinter den nassen Fenstern konnte man wieder die Lichter von Amsterdam sehen. Von den Bahnsteigen drang das Geräusch anfahrender und haltender Züge herein und die Lautsprecherdurchsagen, die ihnen vorausgingen. Die Art-déco-Lampen waren jetzt eingeschaltet worden, denn draußen brach die Dunkelheit herein, und Van Leeuwen dachte: Was für ein schöner Ort. Was für ein schöner Ort doch ein Bahnhof war.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Commissaris?«, erklang eine Frauenstimme, und er blickte überrascht auf.
Er brauchte einen Augenblick, bis er die Frau erkannte. »Was machst du denn hier, Brigadier Tambur?«
Brigadier Julika Tambur rutschte neben ihm auf die Eckbank und sagte: »Ich dachte, ich könnte Ihnen Gesellschaft leisten.«
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Es ist Sonntag. Sonntags gehen Sie auf den Friedhof, und anschließend sitzen Sie hier und …«
»… blasen Trübsal«, fiel Van Leeuwen ihr schroff ins Wort. »Das wolltest du doch sagen, oder?«
»Nicht mit diesen Worten.« Julika winkte einem der Kellner und bestellte einen doppelten Espresso. Sie saß nah genug, dass er ihr Parfum riechen konnte, süß, aber nicht zu schwer. »Bestimmt waren Sie früher oft mit Ihrer Frau hier«, bemerkte sie, nachdem der Kellner den Espresso gebracht hatte. Sie trank einen Schluck und sah zu dem Kakadu hinüber, der jetzt mit dem Kopf nach unten an dem Kletterbaum hing. »Sie sollten das vielleicht nicht machen – an Orte gehen, wo Sie zusammen glücklich waren. Dadurch wird es nur unnötig schwer.«
So ruhig er konnte, fragte Van Leeuwen: »Ich soll mir den Tod meiner Frau leichtmachen, ist es das, was du mir sagen willst? Bist du auch in der Lage, für Gott zu sprechen wie der Hoofdcommissaris?«
»Nein«, antwortete Julika. Sie trank den Kaffee langsam, mit kleinen Schlucken, und sie hielt die Tasse fest in den schlanken Fingern, an denen es keinen Schmuck gab. »Sie haben recht, ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt. Aber wenn ich sehe, wie Sie das mitnimmt … und damit bin ich ja nicht allein … Wir – wir trauern doch alle mit Ihnen, verstehen Sie?!«
»Nein.« Mit einem Ruck schob Van Leeuwen seinen Teller in die Mitte des Tisches, weg von sich. »Trauer ist keine Gruppenaktivität, sie ist allein meine Angelegenheit! Wenn ich ein Gemeinschaftserlebnis haben will, fahre ich zum Kirchentag! Ich habe dich nicht gebeten, mir Gesellschaft zu leisten, doch wenn du es schontun musst, dann rede nicht über den Tod meiner Frau oder darüber, wie er mich mitnimmt. Erzähl mir nicht, wie ihr alle Anteil nehmt und dass es gut für mich wäre, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, falls das der nächste Punkt auf deiner Liste sein sollte. Du denkst, ich idealisiere Simone, jetzt, da sie nicht mehr lebt und die Last ihrer Krankheit von meinen Schultern genommen ist, aber das tue ich nicht. Sie fehlt mir einfach mehr, als ich je gedacht hätte. Das ist alles!«
Julika stellte die Tasse ab und errötete. »Ich mache mir nur Sorgen«, sagte sie. »Und daran können Sie mich auch nicht hindern. Schließlich – so wie ich Sie damals in der Nacht gefunden habe, mit der Pistole in der Hand und …«
»Es war ein Unfall«, unterbrach Van Leeuwen sie.
»Manche Unfälle wiederholen sich.«
»Dieser nicht. Ich hatte den ganzen Tag an ihrem Bett gesessen, und dann war sie tot, und ich war müde und betrunken …«
Der Kakadu kletterte von der Stange und begann, über den Tresen zu stolzieren. Mit gesträubtem Kamm ging er bis zum Ende der Theke, wo er unschlüssig verharrte. Einer der Kellner hielt ihm die Hand hin, die er nach kurzem Zaudern bestieg. Der Kellner trug den Vogel zum Fenster. Der Kakadu beäugte die Regentropfen auf der Scheibe und die Lichter des Damrak auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes.
Ein anderer Kellner kam, um den Teller und die leere Tasse abzuräumen, und Van Leeuwen bestellte ebenfalls einen doppelten Espresso. »Ich habe nicht vergessen, was du damals für mich getan hast«, sagte er dann zu Julika, »aber es hat keine Bedeutung darüber hinaus. Damit meine ich, dass Simone die
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