Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
Rand des Bachs nieder und begann sich auszuziehen. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich tat es doch, und schon
bald befand Jun sich in einem Zustand äußersten Glücks wie du, geliebter Wu, wenn du nachts zu mir kommst. Er sagte, es sei eine große Qual für
ihn, so glücklich zu sein, und ich könnte ihn erlösen, ohne dass irgendjemand davon erfährt. Ich wollte nicht hinsehen, doch ich musste, weil ich
mich nicht bewegen konnte. Ich war wie erstarrt, wie eine Statue aus Stein, und ich wünschte mir, ich wäre stattdessen eine der kleinen glitzernden
Wellen, ich könnte mit ihnen den Bach hinunterfließen, immer weiter, fort von Jun und seinem Glück, weiter und weiter, bis ins Meer hinaus und dort
im Ozean verschwinden.
    Ich stand so und sehnte mich nach dir und fühlte Kummer und Scham, und ich fragte mich, wie ich nur so vertrauensselig hatte sein können, so
dumm. Jun aber lachte nur und sagte, ich würde schon noch Gefallen an ihm finden, so lange wie du, mein Mann, noch fern von mir und unserem Lager
sein würdest. Sonst ist nichts geschehen, geliebter Wu, das musst du mir glauben. Ich liebe dich zu sehr, um auch nur an das Glück eines anderen zu
denken.
    Der Commissaris las und spürte die Erinnerung zurückkehren, obwohl er es nicht wollte. Er fühlte sich plötzlich so müde, als könnte er sich nie
     wieder rühren, während Ailings Worte um ihn herumwirbelten und nach oben in die Nacht entschwebten gleich schwarzen Schneeflocken. Wie die Kreaturen
     über dem Kopf der schlafenden Vernunft auf Goyas Zeichnung.
    Geliebter Wu, ich dachte, vielleicht wird er von mir ablassen, doch stattdessen nimmt sein Werben – ja, nun weiß ich, dass es wirklich ein Werben
ist – an Heftigkeit und Ungestüm zu. Manchmal wird er wütend, und ich bekomme es mit der Angst zu tun. Jun ist ganz anders als du, geliebter Wu,
er ist keine Muschel. Er ist schön von außen, aber von innen nicht, und ich weiß vor Traurigkeit oft nicht, wohin, denn ich kann mit niemandem
darüber reden, was mit mir geschieht. Die Schande wäre nicht auszumalen, da stimmst du mir doch sicher zu? Soll ich mich weiter wehren, ihn
schneiden wie die Muschel? Soll ich ihm nachgeben? Wie lange kann ich zur Statue werden, und wie lange will ich es? Ist nicht allein diese Frage schon
eine schreckliche Sünde?
    Warum rufst du mich nicht endlich an, um zu sagen, ich habe das Geld nun zusammen, geliebte Ailing, nimm dir ein Flugzeug über den Ozean? Ich
selbst verfüge ja über nichts, und Jun sorgt dafür, dass mir niemand etwas gibt, ja, er behauptet sogar, wir seien hoch verschuldet bei ihm, du und
ich, sodass ich gar nicht weiß, ob man mir dein Geld überhaupt aushändigen würde. Oh, Wu, meine Welt ist von hoffnungsloser Düsternis erfüllt,
und selbst in den Zedern höre ich deine Stimme nicht mehr. Bin ich denn überhaupt noch mehr als der Schaum, der mit dem Abfall auf dem Wasser
treibt, dort, wo der Bach seine Klarheit verliert?
    Der Commissaris dachte an Zheng Wu in seiner Zelle in der Untersuchungshaft, und dann dachte er an Margriet und Gerrit, und schließlich dachte er an Sim und den Mann in Italien. In einerEhe gab es alle möglichen Arten von Fallen, in denen man sich fangen, an denen man sich verletzen konnte, bis man innerlich verblutete.
    Es gab offene Lügen, es gab Schweigen. Es gab verborgene Wahrheiten und wunde Punkte, an die man nicht rühren durfte, um die man einen Bogen machte. Es gab Verzweiflung und Verachtung und Eifersucht und schreckliche Angst. Es gab Tretminen, vor denen man sich auf Schritt und Tritt in Acht nehmen musste, sodass man irgendwann nicht mehr wagte, sich zu regen, bis man in Bitternis erstarrt war. Es gab Herzen, die sich nicht mehr berührten aus lauter Angst, einander zu verletzen.
    Und manchmal gab es Briefe, die besser nie geschrieben worden wären. Aber natürlich, dachte der Commissaris, gab es auch all die anderen Ehen, die von Liebe und Vertrauen bestimmt waren, und ihnen allen gemeinsam war nur, dass am Ende niemand überlebte, nicht mal in der glücklichsten Ehe. Du verstehst es wirklich, die heiteren Seiten des Lebens zu würdigen, dachte er.
    Er faltete die Briefe wieder zusammen und steckte sie in das Kuvert zurück, und das Kuvert legte er auf den Trenchcoat. Die beiden Paare, zwei der Männer und eine der Frauen waren verschwunden. Eine andere Frau hatte sich an ihren Tisch gesetzt und blätterte ungeduldig in einer Illustrierten. Sie trug ein elegantes, schiefergraues Kostüm

Weitere Kostenlose Bücher