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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Feld kroch, immer tiefer zwischen diese wunderschönen Tulpen.
    Sie achtete nicht darauf. Sie sagte sich nicht, du darfst nichtdarauf achten ; es geschah von selbst. Sie kroch auch nicht mehr weiter, denn der Mann kniete jetzt auf ihrem Rücken und schlang etwas um ihren Hals, schnell und eng wie einen dünnen Schal, und der Schal hielt die Tüte auch noch fest, als der Mann sie losließ. Ihr Atem hallte in dem stickigen, heißen Nebel, der sich um ihren Kopf blähte und zusammenzog. Ihr Herz schlug langsamer. Die Farben der Tulpen in ihrem Blut verblassten. Durch das beschlagene Zellophanfenster in ihrem Leben sah sie auf die Felder, den Himmel und die Birken am Rand der Welt, wo gelbes Laub von den Ästen wehte, und vielleicht sah sie sogar über den Rand der Welt hinaus; sie achtete einfach nicht darauf.
    Es war so einfach.

18
    Eine Zeit lang folgte die Straße dem Ufer der Amstel, und von seinem Platz ganz hinten in der Straßenbahn konnte Van Leeuwen die Silhouetten toter Zypressen vor dem zinngrauen Wasser sehen und später die kleinen Flammen abgefackelter Gase an den Schornsteinen der Raffinerien am Stadtrand. Dichte Wolken ballten sich über der flach daliegenden Landschaft wie dunkler Rauch von einem unsichtbaren Feuer. Van Leeuwen glaubte, den Regen schon in den Windstößen riechen zu können, die durch die gekippten Oberlichter der Tram drangen. Die ersten Tropfen zerplatzten auf den Scheiben.
    Der Commissaris sah noch eine Weile zu, wie die Tropfen zu kleinen Bächen auf dem Fenster wurden, dann vertiefte er sich in die Wochenendausgabe von De Avond!. Er las den Politikteil, der ihn nicht sehr interessierte, und dann den Sportteil, der ihn auch nicht besonders interessierte. Den Kulturteil las er, um herauszufinden, ob es ein neues Buch oder einen Film gab, die der Mühe wert waren, aber es gab keine. Auf der vorletzten Seite entdeckte er eine Kolumne mit der Überschrift Samariter.nl unter dem Foto eines Mannes – große, aufmerksame Augen, eine hohe Stirn, einschmaler, sensibler Mund, dazu eine Brille, die wahrscheinlich eher ein Accessoire war, aber trotzdem: alles in allem ein Gesicht, zu dem man Vertrauen haben konnte, auch ohne den Samariter aus der Bibel zu kennen.
    In der Bildunterschrift las der Commissaris, dass Samariter.nl auch aus Rundfunk und Fernsehen bekannt war, wo er in spät nachts ausgestrahlten Talksendungen über Einsamkeit, Angst, Verlust oder Verzweiflung Rat und Trost spendete. In der Einleitung zu der Kolumne las Van Leeuwen den Brief einer jungen Frau namens Linda, deren Vater im Sterben lag. Sie schrieb, wie zornig er darüber war und wie er jeden, der ihm nahestand, damit quälte und terrorisierte und dass sie jetzt auch immer zorniger wurde und ihm den Tod wünschte. Sie schrieb, dass sie ihn trotzdem liebte, aber sie war allein mit ihm und seinem Sterben, und sie wusste nicht mehr, wie lange sie das noch aushielt.
    Ja, dachte Van Leeuwen, so ist das. Die Traurigkeit in seinem Herzen war jetzt nicht mehr heiß und zornig, sondern kühl und schwer. Lesen half auch nicht sehr viel, deswegen hörte er auf, als er zu der Stelle kam, in der Mijnheer Jacobszoon der jungen Frau antwortete, dass Zorn zum Sterben gehörte. Zorn gehörte dazu und Depressionen und dass man zu schachern anfing, mit seinem Arzt, mit Gott; dass man um sich schlug, weil man sich isoliert und ungerecht behandelt fühlte. Weil man sterben musste, während alle anderen weiterleben durften.
    In der Centraal Station warf Van Leeuwen die Zeitung in einen Abfalleimer, durchquerte die schlecht beleuchtete Bahnhofshalle und stieg die Treppe zu den Gleisen hinauf. Oben ging er ein Stück den Bahnsteig 2b entlang, bevor er das Grand Café I er Klas betrat, ein sauberes Restaurant, das mit seiner dunklen Holztäfelung und den lilienförmigen Art-déco-Lampen an die Zeit fauchender Dampflokomotiven und seidenbespannter Schrankkoffer erinnerte.
    Alles war, wie er es mochte, jede Tischplatte so blank poliert, dass sie glänzte, jede Zeitung zerlesen, jeder Stuhl bequem, die Aufmerksamkeit der Kellner groß und die Speisekarte klein. Es gab genug Platz zwischen den Tischen, und von den Gleisen drang nichtmehr Lärm herein als nötig. Die Beleuchtung war unaufdringlich. An einer kleinen Holzstange neben dem Tresen vollführte ein weißer Kakadu artistische Kletterkunststücke. Der Kakadu war noch nicht da gewesen, als Van Leeuwen hier das letzte Mal mit Simone gegessen hatte.
    Der Commissaris nahm an seinem Ecktisch

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