TotenEngel
ökonomisch, schlug Haken in den Stein, knüpfte Knoten, hangelte sich höher und höher, und all das, ohne zu schwitzen, ohne das geringste Anzeichen physischer Anstrengung. Man konnte fast den Wind spüren, der sie dort oben streifte, den Geruch des Felsens in der Sonne, die Luft eines Sommertags hoch über der Welt. »Miriam Brautigam«, sagte Van der Meer, als wäre damit alles erklärt.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Commissaris zu und schraubte seine Lautstärke noch um einige Dezibel nach oben. »Was kann ich denn diesmal für Sie tun? Sie sind ja wohl nicht hier, um mich wieder zu verhaften.«
»Nein, ich bin hier, um mit Ihnen über eine Frau namens Heleen Soeteman zu sprechen, die von Ihnen behandelt werden wollte«, sagte der Commissaris. »Wie Sie vielleicht wissen, wurde sie vor einigen Tagen getötet.«
Van der Meer schaltete den Fernseher aus, gerade als die Frau auf dem Bildschirm die Seile und Haken gegen ein Paddel vertauschte, mit dessen Hilfe sie ein Kanu durch einen Wildwasser-Canyon schleuste. »Heleen Soeteman ist tot?«, fragte er überrascht. »Nein, das wusste ich nicht. Wer … in welcher Klinik hat man ihr denn geholfen?«
»Nach meinen Informationen haben Sie die Behandlung abgelehnt«, sagte der Commissaris.
»Ja, das stimmt.«
»Geschieht es oft, dass Sie sich weigern, einem Kranken ärztliche Hilfe zuteilwerden zu lassen?«
Van der Meers Kieselaugen sprühten Funken. »Schauen Sie sich um, Mijnheer – das ist mein Büro, in diesem Raum verbringe ich meine Tage und meistens auch die Nächte. Fast alle Möbel sind von der Heilsarmee. Den Sandsack in der Ecke da hat mir meine Tochter geschenkt. Hier arbeite ich, und hier male und trainiere ich, nur Schlaf finde ich hier nicht. Aber das ist nicht schlimm, weil ich nirgendwo schlafen kann. Schauen Sie sich meine Gemälde an, sehen Sie aus dem Fenster, auf das Meer, den Himmel – und dann sagen Sie mir, ob Sie wirklich glauben, mich mit solchen Fragen provozieren zu können!«
Es war ein großes Büro, aber nur spartanisch eingerichtet: ein Schreibtisch aus zerkratztem Nussbaumholz mit einem altmodischen PC , einer Lampe und einem in rotes Kunstleder gebundenen Organizer darauf. Ein Tastentelefon. Ein schlichter Drehstuhl ohne Armstützen hinter dem Schreibtisch und ein weiterer Stuhl ohne Rollen, aber mit Armstützen davor. Auf der einen Seite des Fensters – neben der Metallkonsole mit dem TV -Apparat – hing ein dicker, kolbenförmiger Ledersack, unter dem ein Paar Boxhandschuhe lagen. Der Sack wirkte so alt und abgenutzt, dass er kaum noch wie Leder aussah, sondern eher wie ein großes nacktes Tier ohne Gliedmaßen. Auf der anderen Seite des Fensters lehnte auf einer ramponierten Staffelei ein erst halb fertiges Gemälde in schreienden Primärfarben, das mehrere Blumentöpfe auf dem Geländer eines Balkons zeigte. Außerdem gab es einen Aktenschrank,ein deckenhohes Bücherregal, eine mit weißem Papier abgedeckte Liege und einen Paravent, der ein Waschbecken mit einem tropfenden Wasserhahn verbarg.
Eine ganze Wand war ausschließlich mit Ölbildern in denselben schreienden Farben geschmückt, wie sie bei dem unfertigen Gemälde auf der Staffelei Verwendung gefunden hatten. In ihrer kühnen, naiven Pinselführung und der kindlichen Lust an leuchtendem Dottergelb, tiefem Blauviolett und prallem Magentarot erinnerten sie Van Leeuwen an Malerei aus Lateinamerika und Mexiko, an Diego Rivera und Fernado Botero.
Auch die dargestellten Motive erfreuten den Betrachter mit kindlicher Drastik. Auf einem Bild krabbelte ein Kleinkind in einer blutigen Windel fröhlich auf einer bereits in Verwesung übergegangenen Männerleiche mit weit klaffendem Brustkorb herum. Ein anderes zeigte eine spärlich bekleidete Greisin mit wirrem Haar und schlaffen Brüsten, die einen halbierten Säugling in einen Fleischwolf stopfte. Auf dem nächsten waren weitere Blumentöpfe zu sehen, aus denen nackte, rot verschmierte Babys zu wachsen schienen: kleine ausgestreckte Hände, ein hungrig aufgerissener Mund, der an einem abgehackten Daumen lutschte. Auf dem Boden neben den Töpfen lagen weitere Babyteile, in durchsichtiges Zellophan gehüllt.
Der Commissaris spürte, wie sein Mund trocken wurde. Im Magen hatte er ein Gefühl, als hätte er Glas zerkaut und heruntergeschluckt. »Die Kinder symbolisieren den Lebenswillen?«
Van der Meer schob die Hände in die Kitteltaschen. »Das ist eine Interpretationsfrage«, sagte er. »Vielleicht
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