TotenEngel
dass sie schreien würde, solange sie noch schreien konnte.«
Der Commissaris starrte auf den Bildschirm, auf die Frau, die ihm jetzt gar nicht mehr alt vorkam, denn er sah die junge Miriam in ihr, und er hörte sie schreien. Mühsam bewegte sie die Lippen, um ein paar undeutliche, gurgelnde Worte herauszubringen. Er hörte sie schreien, weil sie mit den Augen schrie.
Van der Meer fuhr fort: »All das ist inzwischen eingetreten. Die meisten Nerven und sämtliche Muskeln haben sich so weit zurückentwickelt, dass sie zu nichts mehr taugen, als Miriam unerträgliche Schmerzen zu bereiten. Nur die Augenmuskeln sind davon ausgenommen, und wenn sie genau hinschauen, wenn Sie in diese Augen sehen, erkennen Sie das Schlimmste: Sie ist bei klarem Verstand. Sie weiß und spürt ganz genau, was mit ihr passiert, mit dem Rest ihres Körpers, bis zu dem letzten Krampf, der sie tötet; dem Moment, in dem sie erstickt. Schauen Sie genau hin, Mijnheer – was sehen Sie? Was sehen Sie?«
Van Leeuwen schaute hin, und er hatte keinen Zweifel, dass die junge Frau in der alten sterben wollte. Jetzt verstand er auch die stockenden, halb ertränkten Worte: Ich will nicht mehr leben. Ich kann nicht mehr. Ich will sterben.
Sie sah in die Kamera und durch die Kamera hindurch und aus dem Fernsehapparat in eine Welt, die schon lange nicht mehr ihre war. Mit einer zitternden Hand kritzelte sie etwas auf einen Notizblock, langsam, schwerfällig, Buchstaben, Silben, Worte, und dann drehte sie den Block erschöpft zur Kamera, versuchte, ihn hochzuhalten, und da stand: Bitte, lasst mich sterben, und zwei glitzernde Streifen liefen von den Augen über ihre eingefallenen Wangen hinunter zu den Mundwinkeln.
Bitte, lasst mich sterben .
Die Worte standen groß und flehend in der Mitte des Bildschirms, bevor Van der Meer den Apparat ausschaltete. »Wie lautet Ihre Entscheidung, Commissaris? Was schlagen Sie vor? Soll Miriam Brautigam weiterleben, weiter leiden, oder respektieren Sie ihren sehnlichsten, ständig wiederholten Wunsch, endlich sterben zu dürfen, mit dem Rest Würde, der ihr noch geblieben ist?«
Van Leeuwen sagte nichts. Er schämte sich fast dafür, aber so war es, ihm fiel nichts ein. Was ist Würde?, dachte er. Was versteht man darunter? Versteht jeder dasselbe?
»Ich will Ihnen helfen, Commissaris«, meinte Van der Meer. »Ich – wir behandeln hier zurzeit einhundertsiebenundvierzig Patienten in verschiedenen Stadien ihrer Krankheit, und dabei handelt es sich nicht nur um Krebs, sondern auch um Multiple Sklerose, Parkinson oder eben ALS . Kein Fall ist wie der andere – manche von ihnen können geheilt werden, bei anderen kann man den Krankheitsverlauf beeinflussen, und einige werden sterben. Aber denen, die sterben, ist eins gemeinsam – ihr Tod wird qualvoll sein, von unerträglichen Schmerzen begleitet. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit zerfallen sie dann wieder in zwei Gruppen: die einen, die diesen Krankheitsverlauf bis zum letzten Atemzug er leben wollen, und die anderen, die sterben wollen, solange ihnen noch ein Tod in Würde möglich ist. Der ersten Gruppe stellen wir die gesamte Palette der Palliativmedizin zur Verfügung, Schmerztherapie, Sterbebegleitung, alles. Für die zweite Gruppe, die, wie es juristisch heißt, unbeeinflusst, freiwillig, wohlüberlegt und andauernd nach Sterbehilfe verlangt, für die gibt es das Komitee. Mein think tank . Das Komitee entscheidet, wer von uns erlöst wird und wer nicht.«
»Was ist das für ein Komitee? Aus wem besteht es?«
»Zu dem Komitee gehören der Chef der jeweiligen Abteilung, ein weiterer Arzt aus Haarlem, ein Psychologe und ich selbst als medizinischer Direktor der Klinik«, erklärte Van der Meer. »Leider sind mir momentan die Hände gebunden, jedenfalls solange mein Einspruch gegen das Urteil nicht verhandelt worden ist. Das Gericht hat mir mein Gewissen verboten. Die Bewährungsauflagen beinhalten, dass ich nicht einmal mehr im erlaubten RahmenSterbehilfe leisten darf. Ich darf Miriam nicht helfen, ihre Würde zurückzuerlangen. Aber jemand wird es in diesem Fall tun. Das Komitee hat so entschieden.«
Der Commissaris sah eine Möglichkeit, seinem Dilemma zu entfliehen, die Rückkehr zum Anlass seines Besuchs. »Und dieses Komitee hat im Fall Heleen Soeteman entschieden, dass die Voraussetzungen für Euthanasie nicht gegeben waren?«
»Nein, das hat es nicht entschieden. Aber aus dem oben erwähnten Grund habe ich beschlossen, ihr nicht in unserer Klinik zu
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