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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Erlösung von Schmerzen ausreicht, um jemandem das Leben zu nehmen?«
    Der Arzt blieb abrupt stehen. »Sie wissen nicht, was es bedeutet zu leiden …« Jetzt brüllte er wieder. »Was es bedeutet, jemandem dabei zusehen zu müssen, wie er an einer schweren Krankheit stirbt.«
    » Sie wissen nicht, was ich weiß!« Auch der Commissaris konnte brüllen, und während er zufrieden feststellte, dass er lauter war als Van der Meer, dachte er: Du bist nie auf diesen Gedanken gekommen, bei Simone. Es war ihm nicht einmal eingefallen, es könnte richtig sein, mit ihr in eine Sterbeklinik zu gehen. Vielleicht, wenn sie starke Schmerzen gehabt hätte; vielleicht dann, aber ich glaube es nicht. »Wer entscheidet in dieser Klinik, wer lebt und wer stirbt?«, fragte er.
    »Warum nicht Sie, Commissaris?« Der Arzt blieb vor einer Tür stehen, klopfte und trat gleich ein. Van Leeuwen folgte ihm in ein überraschend geräumiges Zimmer mit einem Bett, in dem das Skelett einer Frau lag. Das Fenster stand offen, und die Vorhänge bauschten sich in den Raum hinein wie zwei große Flügel. Sie reichten fast bis zu der fahrbaren Patientenüberwachungseinheit, die neben dem Bett stand und von der mehrere Schläuche und Kabel zu der Frau führten. Ein grüner Punkt lief über einen schwarzen Monitor, begleitet vom elektronischen Piepsen simulierter Herztöne. Das rhythmische Zischen eines Respirators erfüllte das Zimmer, und wie ein Kontrapunkt dazu erklang von draußen das Rauschen der Dünung und das rostige Quietschen des Wetterhahns auf dem Dach.
    Die Frau war blass, ihr dunkles Haar schweißverklebt. Ihre Brust unter der dünnen Decke schien so eingefallen zu sein, dass Van Leeuwen glaubte, ihr Herz sehen zu können; es schlug gegen die Rippen wie gegen die Gitter eines Käfigs. Schläuche führten zu Kanülen, Flüssigkeit rann durch Nadeln, Sauerstoff kreiste in durchsichtigem Plastik. Die Augen der Frau waren geschlossen, aber als Van der Meer nach ihrer Hand griff, flatterten ihre Lider.
    »Hallo«, sagte er.
    Sie gab einen Laut von sich, der einem hellen Pfeifton glich, und wie als Reaktion darauf ging eine erstaunliche Veränderung mit dem Arzt vor. Plötzlich wirkte er verständnisvoll, aufmerksam, fast gütig. Er sprach so leise, dass der Commissaris ihn nicht mehr verstehen konnte. Aber die Patientin konnte es, sie lächelte schwach und öffnete kurz die Augen. Ihre Finger, dünn wie Zahnstocher, schlossen sich um Van der Meers Hand. Er ließ sie ihr einige Sekunden lang, dann löste er sie behutsam aus ihrem Griff. Er ging zu dem Waschbecken neben der Tür und füllte eine Porzellanschale mit warmem Wasser. »Schließen Sie bitte das Fenster«, sagte er.
    Der Commissaris ging zum Fenster und schloss es. Als er sich wieder umdrehte, hatte der Arzt die Bettdecke zurückgeschlagen, das Hemd der Frau hochgeschoben und angefangen, ihre flache, eingefallene Brust mit einem feuchten Waschlappen abzureiben. Ihre Augen waren dabei fest auf sein Gesicht gerichtet, und wenn er sich abwandte, um den Lappen wieder ins Wasser zu tauchen, verharrten sie bewegungslos, fast ängstlich, bis sie ihn wieder sehen konnte. Er wusch ihren Bauch, den Unterleib und die Beine, die kaum noch Muskeln aufwiesen.
    Van Leeuwen sah ihm zu, er sah die Sorgfalt, die behutsamen Bewegungen, und er musste daran denken, wie er Simone abgewaschen hatte, abends und morgens und manchmal mitten in der Nacht. Auf einmal hatte er das Gefühl, einen überraschenden Blick auf den anderen Van der Meer zu erhaschen, einen Mann, dem er sich nah fühlte. Trotzdem fragte er sich, ob der Arzt gerade aufrichtige Anteilnahme zeigte oder nur bewusst eine Studie in Demut inszenierte. Oder ob es einfach keinen Unterschied zwischen beidem gab.
    »Helfen Sie mir mal, sie umzudrehen«, bat Van der Meer. »Sie müssen die Schläuche halten, und Vorsicht mit den Armen.« Gemeinsam schafften sie es, die Frau auf die Seite zu legen, ohne dass die Nadeln und Infusionsschläuche sich lösten. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber es klang zu undeutlich, als dass Van Leeuwen sie verstehen konnte. Der Arzt säuberte auch den Rücken, den Po und die Rückseite der Schenkel. Danach trug er die Schüssel und denLappen wieder zum Waschbecken. Van Leeuwen stand neben dem Bett, noch immer mit den Schläuchen in der Hand. Er spürte, wie ihm ein kalter Lufthauch über den Nacken strich, und sah zur Tür hinüber, die einen Spaltbreit offen stand.
    Er erinnerte sich, dass er sie geschlossen

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