TotenEngel
hatte.
Nachdem er mit Van der Meer in den Raum gekommen war, hatte er sie ganz sicher zugemacht. Aber jetzt war sie nur angelehnt, und jemand stand auf dem Gang und spähte herein. Jemand beobachtete, was in dem Zimmer vorging. Jemand hatte lautlos die Tür geöffnet, eine Frau oder ein Mann, der Ausschnitt der dunklen Silhouette konnte beides sein. Einen Augenblick später war die Silhouette verschwunden, nur der offene Spalt blieb, hell vom Licht auf dem Korridor.
»Sehen Sie sich diese Frau an, Mijnheer!«, brüllte Van der Meer unvermittelt. »Ihr Name ist Miriam Brautigam, fünfunddreißig Jahre alt, Köchin, Freeclimberin, Wildwasserkanutin. Würden Sie sagen, sie lebt, oder sie stirbt? Wollen Sie ihr sagen, dass es gut ist so, dass Sie sich freuen soll, am Leben zu sein? Wollen Sie hören, was sie sagt, wenn Sie sie fragen, ob Sie etwas für sie tun können? Soll er dich fragen, Miriam? Fragen Sie sie doch, los – fragen Sie sie: Freust du dich deines Lebens, Miriam Brautigam? Kann ich irgendetwas für dich tun, Miriam?«
Zum ersten Mal kam Van Leeuwen der Gedanke, dass der Arzt brüllte, weil er sonst kein Wort herausbekommen würde; dass er brüllte, um nicht zu verzweifeln. »Nein, sagen Sie noch nichts. Ich muss Ihnen erst noch etwas zeigen.« Van der Meer kehrte zum Bett zurück und drehte die alte Frau, die erst fünfunddreißig Jahre war, sanft wieder auf den Rücken. Sie schluckte und hustete. Es klang, als ertränke sie innerlich. Der Arzt ordnete die Schläuche, justierte den Sitz von Nadeln und Kanülen und versprach: »Ich sehe später noch einmal nach dir, Miriam.«
Sie begann, am ganzen Leib zu zittern, so sehr strengte sie sich an, etwas zu sagen, aber alles, was ihr gelang, war ein Flattern und Zucken der Augen. Der Commissaris nahm ihren Anblick auf der Netzhaut seines inneren Auges mit aus dem Zimmer und fand eswieder auf dem Bildschirm des Fernsehapparates in Van der Meers Büro, als der Arzt das Gerät einschaltete und das Video, das er bei Van Leeuwens Eintreffen betrachtet hatte, weiterlief.
Miriam Brautigam, fünfunddreißig Jahre alt, kletterte jetzt nicht mehr Felswände hinauf, und sie paddelte auch nicht weiter durch einen Wildwasser-Canyon. Sie lag auf dem Rücken in dem Bett in ihrem Zimmer hier in der Klinik, gespickt mit Nadeln und Schläuchen. Sie sah starr in die Videokamera, die das Bett und sie von der linken Seite aufnahm, und nur an dem schwachen Heben und Senken ihrer Brust konnte man erkennen, dass sie noch lebte.
»Sie denken, diese Frau ist Miriam Brautigam«, bemerkte Van der Meer, »die Miriam Brautigam, die Sie eben in der Felswand und im Kanu gesehen haben, aber sie ist es nicht. Vor zwei Jahren war sie es noch, in ihrer Küche im Hotel Pulitzer in Amsterdam. An diesem Tag ließ sie bei der Arbeit plötzlich eine Pfanne fallen. Natürlich dachte sie sich nichts dabei, obwohl ihr das noch nie passiert war. Einige Tage später probierte sie einen Schluck Kochwein, und ganz plötzlich wurde ihre Aussprache so undeutlich, als wäre sie stockbetrunken. Als Extremsportlerin trank sie keinen Alkohol, nie. Etwas später – sie wollte am frühen Morgen auf ihre Vespa steigen – verlor sie das Gleichgewicht und kippte mit dem Scooter um, einfach so. Sie ging zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen, und als sie ihn anrief, um die Ergebnisse zu erfahren, bestellte er sie nicht in seine Praxis, sondern in die Uniklinik, wo sie sich plötzlich einem ganzen Ärztekonsortium gegenübersah.
Die Ärzte erklärten ihr, dass sie an amyotrophischer Lateralsklerose leide, einer degenerativen Krankheit des motorischen Nervensystems, an der sie innerhalb kurzer Zeit sterben werde, weil es für dieses Leiden keine Behandlung und daher auch keine Heilung gebe. Ihre erste Reaktion war, dass sie lachen musste. Sie verlor völlig die Kontrolle über sich. Als sie sich wieder in der Hand hatte, fragte sie: Wie ?, und die Ärzte sagten ihr, vermutlich werde sie an ihrem eigenen Speichel ersticken, weil sie irgendwann nicht mehr schlucken könne. Sie blieb erstaunlich gefasst, wollte nur noch ein paar Einzelheiten wissen. Sie erfuhr, dass sie schon lange vordem wahrscheinlichen Erstickungstod nicht mehr würde klettern, schwimmen oder auch nur laufen können, auch kochen oder normal essen oder auch nur allein auf die Toilette gehen würde sie nicht können, weil nämlich nach und nach ihre Nerven und Muskeln versagen würden. Dafür würden schwere Muskelkrämpfe auftreten, so heftig,
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