Totenfeuer
Viertel vor sechs passiert und die Jungs von der Landjugend tief schlummernd auf ihren Isomatten liegend vorgefunden. »Beinahe hätte der Hund einen Schlafsack angepisst.« Seine Frau, die beim Spaziergang nicht dabei war, begleitet den Bericht mit beifälligem Nicken, während sie Silberbesteck in eine Schublade sortiert und dabei jedes Stück noch einmal mit einem weißen Leinentuch poliert. Sie hört die Geschichte offenbar nicht zum ersten Mal.
»Haben Sie da oben ein Fahrzeug gesehen?«, fragt Völxen. »Ein fahrendes oder auch ein parkendes?«
Nein, ein Fahrzeug ist dem Frühaufsteher nicht aufgefallen, und auch Völxens Frage nach einem Schuss verneint der Mann, allerdings mit dem Hinweis, dass er sein Hörgerät nicht getragen habe. »Da oben ist es immer windig, und das rauscht dann so unangenehm.«
»Dass der Hund an dem Gestrüpp rumschnüffelt, ist ja klar, aber wer denkt denn an so was?«, meint eine Dackelbesitzerin, die am Sonntagmorgen gegen acht Uhr auf dem Lüderser Weg entlangspazierte. »Bis zu den Windmühlen und zurück.« Von der Landjugend sei um diese Zeit keiner mehr dagewesen. »Nur eine Menge Müll lag rum, ein Saustall war das. Auf dem Rückweg habe ich den Willi dann angeleint.«
Eine Frau Schlote aus der Neubausiedlung berichtet, nachdem sie ihre beiden Kinder nach oben geschickt hat: »Ich bin am Sonntag um acht Uhr mit Cora rausgegangen. Auf dem Hinweg hat sie den Haufen angebellt wie verrückt. Das hat sie die Tage vorher nie gemacht. Als sie anfing, darin rumzuscharren, habe ich sie weggezogen. Ich dachte, vielleicht ist ein Tier da drin, ein Marder oder so. Hätte ich geahnt …« Die Hausbesitzerin sieht Völxen schaudernd an, während sich die Schnauze des Golden Retriever über den Tisch schiebt und Kurs auf einen Teller mit Süßigkeiten nimmt. Von oben hört man Kinderstimmen und Fußgetrappel.
Jule betrachtet die österlichen Fensterbilder und die bunten Notiz- und Werbezettel, die mit Magneten an der Seite des Edelstahlkühlschranks festgehalten werden. Kinderturnen, Osterbasar, Power-Yoga, Lammbraten griechisch … Eine Familie wie aus der Bausparkassenwerbung. Ob es bei Leonard zu Hause ähnlich aussieht? Angeblich lebt er mit seiner Frau nur noch wegen des zehnjährigen Sohnes zusammen. Aber wenn das tatsächlich so wäre, dann müssten sie sich nicht so klammheimlich treffen. Und wenn Völxen heute noch jeden Haushalt in diesem Ort abklappern will, dann kann sie ihr Date in den Wind schreiben, verdammt noch mal! Es ist sinnlos, was wir hier tun, findet Jule und ist zum ersten Mal verärgert über ihren Chef. Normalerweise ist Bodo Völxen derjenige, der sich an das Wilhelm-Busch-Wort Wer rudert, sieht den Grund nicht hält und erst einmal Ermittlungsergebnisse abwartet, ehe er aktiv wird. Aber in diesem Fall legt er eine geradezu fiebrige Verbissenheit an den Tag, um nicht zu sagen: blinden Aktionismus. Wäre wenigstens die Leiche bereits identifiziert, dann könnte man gezielte Fragen stellen, aber so? Auf Jules vorsichtige Nachfrage hat Völxen erklärt: »Heute, am Feiertag, sind die Leute zu Hause, und die Erinnerungen sind noch frisch.«
Da mag etwas dran sein, aber wahrscheinlicher ist, dass er seinen Nachbarn beweisen möchte, wie ernst er diese Sache nimmt, vermutet Jule.
»Wann war das genau, als Sie die Feuerstelle passiert haben?«, fragt Jule nun die junge Mutter. Die schaut auf die Wanduhr – ein Modell von Ikea , das Jule aus ihrer eigenen Küche kennt –, als würde sie dort die Antwort finden. Anscheinend klappt das auch, denn sie sagt: »Das erste Mal war es etwa zehn nach acht, das zweite Mal zehn, fünfzehn Minuten später. Auf dem Rückweg hatte ich Cora aber dann schon angeleint, damit sie sich nicht wieder so aufführt und das ganze Dorf wachbellt.«
»Wohin genau sind Sie gegangen?«, will Völxen wissen.
»Ganz einfach: die Straße hoch, dann links auf dem Berg lang bis kurz vor Lüdersen. Dann dieselbe Strecke zurück.«
»Ist Ihnen irgendwann ein Auto begegnet?«
Zwar ist der Weg, der über den Vörier Berg ins höher gelegene Dorf Lüdersen führt, für den öffentlichen Verkehr gesperrt, aber jemand, der eine Leiche verschwinden lassen möchte, kümmert sich wohl kaum um die Straßenverkehrsordnung.
Die Frau schüttelt den Kopf. »Da oben bestimmt nicht. Im Dorf habe ich nicht darauf geachtet.«
»Vielleicht ein parkender Wagen?«, insistiert der Kommissar.
»Nein. Seit dem 1. April ist ja offiziell wieder Leinenzwang, und da
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