Totenfrau
es geht. Die meiste Zeit. Nur manchmal geht es nicht anders.
Vor vier Tagen Uma auf der Straße. Wie sie dastand und schrie. Immer wieder. Papa. Du musst heimkommen. Bitte, Papa. Komm. Alleine war sie nach unten gegangen, die Einfahrt hinaus, dorthin, wo er gestorben war. Laut drangen ihre Schreie bis nach oben. Wie Blum nach unten rannte und Uma hochhob, sie an sich drückte. Unfähig etwas zu sagen, Uma ihren Schmerz zu nehmen. Beide waren sie hilflos. Die leere Straße tat weh. Man sah nichts mehr, kein Blut, alles war so, als wäre nie etwas passiert. Nichts mehr von Mark, nur Umas Zittern. Weil die Wirklichkeit ihr Angst machte. Blum umarmte sie. Uma. Dann Nela. So wie sie es immer macht. Mit allen Armen, die sie hat.
Eulen. Mit aufgeklebten Augen, Nasen und Mündern. Sie fliegen im Wohnzimmer herum, während Blum im Internet nach Edwin Schönborn sucht, während sie seine Homepage durchklickt und seine Nummer wählt. Die Eulen landen im Badezimmer, während sie mit ihm telefoniert und einen Termin vereinbart. Sehr spontan alles. Sie beschließt zu spielen. Sie ködert ihn mit Vorschusslorbeeren, sie wolle nur ihn, sie wolle Aktfotos machen lassen, er sei der Beste im Land, er oder keiner. Blum will keinen Tag länger warten, sie will es wissen, sofort. Sie will das Fotoshooting mit ihm besprechen, sie habe konkrete Vorstellungen, sie wäre gerade zufällig in der Stadt, Geld spiele keine Rolle. Blum gibt alles und bekommt einen Termin. Sie solle eine Stunde später in seinem Atelier sein, er freue sich. Dass es wirklich so schnell gehen könnte, damit hat sie nicht gerechnet. Blum legt auf und bittet Karl, noch einmal nach den Kindern zu schauen. Dann duscht sie, zieht sich um und fährt in die Stadt.
Herzklopfen. Keine Zeit mehr zu verlieren. Es ist Nachmittag. Herzog-Friedrich-Straße, Altstadt Innsbruck. Beste Lage, die Miete muss ein Vermögen kosten. Blum steht vor der Tür, sie klingelt. Langsam geht sie nach oben. Blum atmet tief ein und aus. Nerven bewahren, ruhig bleiben. Sie wird ihm unvoreingenommen begegnen, sie wird einfach mit ihm reden. Über Fotos, über Akte, über seine Arbeit. Und sie wird das Gespräch aufzeichnen, sie wird seine Stimme mit nach Hause nehmen und sie Dunja vorspielen. Blum drückt die Aufnahmetaste, dann geht die Tür zum Atelier auf. Edwin Schönborn lächelt und gibt ihr die Hand.
Ein wunderschöner Raum. Ein altes Gewölbe, hohe Räume, alles in Weiß, große Fenster, ein weißes Ledersofa, Blum setzt sich. Edwin Schönborn strahlt. Weiße Zähne, reguliert, teuer gekleidet, ein gepflegter Mann, schön, Mitte dreißig vielleicht, er bietet ihr Kaffee an. Das Atelier ist großartig, ein einziger großer Raum, Platz zum Fotografieren, Schreibtische, Sofas, Schminktische. Schönborn ist der perfekte Gastgeber. Ein charmanter Mensch, da ist nichts, das Blum im ersten Moment abschreckt. Nichts, das ihn sofort zum Feind macht. Schönborn könnte völlig unschuldig sein. Warum sollte gerade er der Mann sein, den Blum sucht, ein Monster? Er bringt den Kaffee und setzt sich. Sie beginnen, sich zu unterhalten, alles scheint normal zu sein. Blum lügt, Blum improvisiert, Blum rechnet damit, dass sie die Treppe mit leeren Händen wieder nach unten geht. Erst als das Gespräch in Fahrt kommt, macht sich ein Gefühl in Blum breit, ein Gefühl, das ihr sagt, dass Schönborn der Mann ist, den sie sucht. Ohne dass er es weiß, bekennt er von Minute zu Minute Farbe. Es wird immer klarer. Zwischen der Begrüßung und dem Ende des Gesprächs passieren tausend Dinge, Ebbe und Flut wechseln einander ab, ein Bild formiert sich. Das Bild eines Verbrechers.
– Schön, dass Sie mich gefunden haben.
– Ja, das ist es. Ich denke, hier bin ich in guten Händen.
– Die Voraussetzung für schöne Aktaufnahmen ist Vertrauen. Dass Sie sich für mich entschieden haben, freut mich sehr.
– Ihre Arbeiten sind wunderschön.
– Sie sind zu freundlich.
– So einfühlsam, man spürt, dass Sie Ihr ganzes Herz in Ihre Fotos legen.
– Alles, was ich habe. Jedes Bild soll ein Kunstwerk werden, es soll Ihre Seele widerspiegeln, Ihre Lust zeigen.
– Lust?
– Was Ihnen wahrscheinlich an meinen Aufnahmen so gefällt, ist das Unsichtbare.
– Das Unsichtbare?
– Was man nicht sieht, sich aber trotzdem vorstellen kann, spüren kann, die Gier, das Begehren. Zu viel zu zeigen, macht jedes Bild kaputt. Zerstört die Erotik.
– Das sehe ich auch so.
– Sie sind eine kluge Frau. Und schön sind Sie
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