Totenfrau
ist, sich nicht rechtfertigen kann, sie nicht in den Arm nimmt und ihr sagt, dass sie aufwachen solle. Aufhören solle zu träumen.
Tränen. Seit Tagen waren sie nicht mehr da, Blum war abgelenkt, sie war Mark wieder nahe, weil sie getan hat, was er getan hatte. Sie versuchte, derselben Spur nachzugehen wie er, sie hatten dasselbe Ziel, beide hatten dasselbe Gefühl. Dass Dunja mehr war als eine drogensüchtige Obdachlose. Dass jedes Wort von ihr brutale Wirklichkeit war. Er hatte daran geglaubt. Blum auch. Und sie tut es immer noch, auch wenn ihre Eifersucht sie lähmt und ihr beinahe die Luft nimmt. Die Vorstellung, dass die Erinnerung Flecken bekommen könnte, treibt Blum die Straße hinunter. Blum sagt es sich vor, immer wieder, sie muss sich beruhigen, sie muss klar denken. Nicht zweifeln. Nicht an Mark. Nicht an Dunja. Alles ist so passiert, wie sie es gesagt hat. Sie glaubt dieser Frau. Sie glaubt an Mark. Er hat sie getroffen, weil er ihr helfen wollte, nur deshalb. Egal was Massimo sagt. Egal wie unmöglich alles klingt. Egal ob sie die Einzige im ganzen Land ist, die davon überzeugt ist, dass es diesen Keller gibt, diese Männer. Blum hat es in Dunjas Augen gesehen. So wie Mark. Deshalb wird sie jetzt stehen bleiben und sich umdrehen. Sie wird tief durchatmen, zurück zu ihrem Motorrad gehen und nach Hause fahren. Sie wird die Kinder umarmen und die Nummer dieses Fotografen heraussuchen. Sie wird einen Beweis für Dunjas Geschichte finden, sie wird Massimo mit Fakten davon überzeugen, dass es mehr ist als eine Lügengeschichte. Dass Mark nichts mit dieser Frau gehabt hat. Gar nichts. Nur Mitleid.
17
Dunja hat den ganzen Tag im Bett verbracht. Karl hat immer wieder nach ihr gesehen, sie lag in Nelas Bett, eingehüllt in rosa Bettwäsche, geborgen und beschützt vom Geruch der Kinder. Stundenlang hat sie geschlafen, nur als Karl darauf bestand, dass sie etwas essen müsse, verließ sie das Kinderzimmer. Als Blum anrief, um zu sagen, dass sie die Nacht über nicht nach Hause kommen würde, schlief Dunja bereits. Karl sagt, dass es fast so gewesen sei, als hätte sich ein verletztes Tier in eine sichere Ecke geflüchtet. Dunja war freundlich, immer wieder bedankte sie sich für die Gastfreundschaft, doch sie wollte allein sein. Mit Karl und Reza sprach sie nur das Nötigste, für die Kinder hatte sie immer ein Lächeln, doch mehr konnte sie ihnen nicht geben. Karl bat Uma und Nela, Rücksicht auf Dunja zu nehmen, er sagte ihnen, dass die Freundin ihrer Mutter sehr müde sei, dass sie lange nicht geschlafen habe. Eine andere Erklärung hatte er nicht.
Als Blum vor fünf Stunden nach Hause kam, schlief Dunja immer noch. Wie ein kleines Kind lag sie da, zusammengerollt, mit angewinkelten Beinen. Blum stand neben dem Bett, so wie sie es sonst tat, wenn Nela darin lag. Sie schaute auf Dunja hinunter und spürte, wie der allerletzte Zweifel verschwand. Dunja war hilflos. Wie sie dalag. Wie zerbrochen sie war. Wie zerrissenes Papier. Wahrscheinlich schlief sie seit Jahren zum ersten Mal wieder in einem richtigen Bett, in einem Bett, in dem sie nichts zu befürchten hatte, in dem niemand ihr wehtat, aus dem keiner sie vertrieb. Ihr Gesicht war friedlich, sie hielt die Bettdecke fest. Blum machte die Tür zu und ging nach oben zu Karl. Die Kinder ritten auf ihm durch die Wohnung.
Blum nimmt sich Zeit. Sie bastelt Eulen mit den Kindern, sie näht kleine Stoffsäcke, stopft sie mit Papier aus und lässt die Kinder Augen, Nasen und Münder darauf kleben. Eulen. Weil die Kinder Eulen lieben. Warum auch immer, aber sie rennen glücklich mit den kleinen Stoffeulen durchs Haus. Wir fliegen, Mama. Wir sind Eulen, Mama. Huhuuu. Huhuuu . Zwei Kinder, so unbeschwert. In diesem Moment deutet nichts in ihren Gesichtern darauf hin, dass sie ihren Vater vermissen. Dass sie begriffen haben, dass er nicht wiederkommt. Nichts, nur das Glück über die Eulen. Weil sie nicht wollen, dass der Wald, in dem die Eulen fliegen, abbrennt, weil sie nicht die Kraft haben, im Feuer um ihr Leben zu laufen. Sie können nicht anders, sie wollen nicht darüber reden, nicht daran erinnert werden. Weil es so wehtut. Weil es schlimm ist und bedrohlich, weil es ihre kleinen Herzen zerfetzt hätte. Der natürliche Weg ist, es zu ignorieren. So gut es geht, es nicht ständig wieder zum Leben zu erwecken, das Leid, die Tränen, die Sehnsucht nach Papa. Mit Eulen spielen, mit Hunden und Katzen aus Plüsch, in Bilderbüchern versinken und lachen. So gut
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