Totengeld
Eigentümlichkeiten sie einzigartig gemacht hatten. Ein Zwinkern, ein Brauenheben, ein schiefer Mund, wenn sie redete.
Ich öffnete die Datei mit dem Aktenzeichen MCME 580-13 und kopierte das Foto hinein. Dann mailte ich eine Kopie des Fotos an Alison Stallings, eine Polizeireporterin des Charlotte Observer . Vor ein paar Jahren hatte Stallings über eine Serie satanischer Morde berichtet, die ich bearbeitet hatte.
Um genau zu sein, Stallings hatte Slidell und mich verfolgt. Aber ihre Berichte waren präzise und fair gewesen. Am Ende hatte ich sie sogar gemocht.
Nach zehn Minuten wählte ich Stallings’ Handynummer.
»Wer ist sie?«, fragte sie zur Begrüßung.
Ich wiederholte, was ich Josie Cromwell gesagt hatte, wobei ich noch einige Details über den Todeszeitpunkt und den Fundort anfügte.
»Was wollen Sie?«
»Können Sie das Foto und einen kurzen Artikel bringen? Vielleicht scheucht das einen Zeugen auf oder jemanden, der sie kannte.«
»Moment mal.«
Ich wartete. Die unverständlichen Wortfetzen vom anderen Ende der Leitung klangen wie Geplapper aus einer anderen Galaxie. In weniger als fünf Minuten war Stallings wieder da.
»Tut mir leid. Mein Chefredakteur sagt, noch nicht. Wenn Ihr Mädchen am Ende der Woche noch immer eine Unbekannte ist, denkt er noch einmal darüber nach. Aber nicht für die Titelseite.«
»Danke. Ich weiß das zu schätzen.«
Wir verabschiedeten uns und legten auf.
Okay. Die Hunde.
Während ich in Jeans, Bluse und Ballerinas schlüpfte, schickte mein Hirn mir ein Bild von Slidell, wie er verächtlich über Latinos und Nutten redete.
Hatte er recht?
War sie illegal?
Was wirst du tun?
Ich rannte nach unten und mailte das Foto des Mädchens auch an Luther Dew vom ICE . Noch ein Schuss ins Blaue, konnte ja aber nicht schaden.
Einen Augenblick saß ich da und dachte nach. Über Slidell und seine vermisste, alleinerziehende Mutter. Über mein Telefongespräch mit Luther Dew.
Und erkannte das Offensichtliche.
Um meiner Unbekannten einen Namen zu geben, musste ich selbst die Initiative ergreifen.
Ich fügte dem Foto des Mädchens einen kurzen Text bei und ging dann zum Drucker.
Mit einem Stapel Flugblätter in der Hand machte ich mich auf den Weg.
11
Das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz des Yum-Tum war der klapprige Ford Escort vom Abend zuvor. Wahrscheinlich gehörte er Shannon King.
Ich schnappte mir eine Handvoll Flugblätter vom Beifahrersitz, stieg aus und ging zur Tür. Hinter mir ratterte ein Auto. Unter meinen Sohlen knirschte Kies.
Im Tageslicht konnte ich einige der Geschäfte in der Nachbarschaft identifizieren. Einen Werkzeugmacher, einen Laden, dessen Rasen voller Gussbeton stand, einen Siebdrucker, einen bröckelnden Gebäudekomplex, der aussah wie ein altes Motel 6, das man zu Apartments umgebaut hatte.
Kein Telefon, kein Pool, keine Haustiere …
Danke, Mr. Miller.
Das vordere Fenster des Yum-Tum war mit Zetteln vollgepflastert, einige neu, die meisten vergilbt und mit abstehenden Ecken. Ich blieb stehen, um ein paar durch das schmuddelige Glas zu lesen.
Verschwundene Katzen und Hunde, ein Papagei. Viel Glück damit. Eine Werbung für einen Wet-T-Shirt-Wettbewerb in einer Bar, die es vermutlich längst nicht mehr gab. Eine Schriftstellerin, die ihr selbst publiziertes Buch verkaufen wollte, Gewicht und Wille. Im Ernst? In dieser Fettzellenzentrale?
King stand hinter der Theke und blätterte in einer Ausgabe von OK! . Die verklebten Wimpern hoben sich, als ich in den Laden klimperte.
»Hi, Shannon.«
»Hey.« Unverbindlich.
»Ob ich vielleicht ein paar von denen da aufhängen kann?« Ich gab ihr ein Flugblatt.
Sie betrachtete das Foto und las das wenige, was ich dazugeschrieben hatte, Details über den Unfall und das Opfer, meine und Slidells Kontaktdaten.
»Okay.« Sie deutete mit dem Daumen auf das Motel 6. »Vielleicht haben ja die Mutanten aus den Apartments was gesehen.«
Sie griff unter die Theke und holte eine mit Haaren verklebte Tesa-Rolle hervor.
»Hängen Sie’s ins Fenster.«
»Darf ich auch eins in die Tür kleben?«
Die dunklen Brauen zogen sich zusammen.
»Sie haben meine Karte. Wenn der Besitzer was dagegen hat, soll er mich anrufen«, sagte ich.
»Was soll’s. Ich sag ihm, der Coroner hat drauf bestanden.« Sie legte ein Exemplar seitlich auf die Theke, sodass es von der Kundenseite aus zu sehen war. »Ich behalte eins hier, Sie wissen schon, um zu sehen, wie die Leute reagieren. Falls sie, also irgendwie
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