Totengeld
gegen Sie? Haben Sie Ihre Steuern nicht bezahlt? Spät dran mit Alimenten? Nur ein Fehltritt, und Sie gehören mir.«
Slidells Worte brachten Speicheltröpfchen auf Polands Gesicht. Sie glitzerten blau und grün im Neonlicht des Schilds hinter der Bar.
Jetzt hatte auch Linda nichts mehr zu sagen.
Da Poland vielleicht offener redete, wenn ich außer Hörweite war, und weil ich der Spucke aus dem Weg gehen wollte, stellte ich mich vor die Anschlagtafeln und tat so, als würden mich die Fotos interessieren.
Die Sammlung sah aus, als reichte sie bis vor die Nixon-Jahre zurück. Einige Schnappschüsse hatten noch altmodisch gewellte Ränder. Andere waren Standardabzüge aus dem Drogeriemarkt. Wieder andere waren Polaroids, nicht mehr im allerbesten Zustand.
Ich blätterte mich durch die Schichten, blieb hier und dort bei einem Bild hängen.
Ein geknicktes Schwarz-Weiß-Foto zeigte ein altes Chevy-Coupé mit Weißwandreifen, dessen Fedora-Fahrer den Arm über die Tür gelegt hatte. Ein Farbabzug zeigte einen Jungen, der einen Strohhut mit Lyndon-B.-Johnson-Schweißband trug. Ein anderer hatte einen von vier nackten Hintern inspirierten Kodak-Augenblick eingefangen.
Dutzende von Fotos stammten aus den Myrtle-Beach-Tagen der Taverne. Auf unzähligen Schnappschüssen tanzten Paare unter Lichtgirlanden, saßen an Tischen oder grimassierten Schulter an Schulter in die Kamera.
Es gab Aufnahmen von Silvesterfeiern mit Luftballons am offenen Kamin, an Wänden und Decke. Von Speisenden in Shorts und Sommerkleidern, die im gesprenkelten Sonnenlicht an Gartentischen hockten. Von Betrunkenen in grünen Hüten mit irischen Kleeblättern und Perlen.
Männer in Overalls. Frauen in Stilettos und Spandex-Oberteilen. Paare, die sich aneinanderschmiegten wie Löffel. Geschäftsleute in Anzügen. Mittzwanziger und -dreißiger in Adidas oder Nike von Kopf bis Fuß. Sportmannschaften in Trikots. Quartette und Sextette von Collegestudenten.
Im Lauf der Jahre hatten sich Moden und Frisuren verändert. Lange Ponys. Wilde Dauerwellen. Rasierte Schädel. Piercings in Nase und Lippen. Es war wie die Schichtenfreilegung bei einer archäologischen Grabung.
Hinter mir redete Slidell weiter auf Poland ein. Die Biertrinker und Linda blieben stumm. Die Arbeiter unterhielten sich inzwischen wieder leise.
Während ich von Tafel zu Tafel ging, fragte ich mich, wie diese Sammlung zustande gekommen war.
Wie immer die Geschichte auch war, die Sammlung hatte in den letzten Jahren an Reiz verloren. Nur wenige Aufnahmen sahen aus wie Produkte des digitalen Zeitalters.
Ich war am Ende der letzten Tafel angelangt, als ich Story entdeckte. Oder – war er es wirklich?
Heimlich zog ich den Reißnagel aus der Tafel und schaute mir das Foto genauer an.
O ja. Rattus rattus.
Story saß neben einer Frau in einem funkelnden grünen Spaghettitop, das ein gigantisches Dekolleté ausstellte. Beide hoben Champagnerflöten. Sie lächelte. Er nicht.
Ein blonder Junge saß einen Barhocker von der Frau entfernt, schief wie nach zwanzig Bieren. Die Jahreszahl auf seiner Unijacke war von vor zwei Jahren.
Neugierig geworden, arbeitete ich mich weiter durch die Stratigrafie.
Und wurde fündig.
Ich kenne den schrecklichen Preis des Krieges. Ich hatte Bilder von Soldaten in voller Ausgehuniform gesehen, die Köpfe hoch erhoben, die verwüsteten Gesichter stolz. Auf der Rednertribüne bei Versammlungen, Arm in Arm mit ihren wunderschönen Bräuten.
Man hatte mir gesagt, dass Dominick Rocketts Verbrennungen sehr schwer waren. Aber auf das war ich nicht vorbereitet.
Brauen und Wimpern von Rocketts linker Gesichtshälfte waren verschwunden, seine Stirn wölbte sich knollig über einer lidlosen Augenhöhle. Seine Lippen waren aufgequollen und schief, das Nasenloch verschmolz körnig-teigig mit der Wange.
Die rechte Gesichtshälfte wirkte, bis auf den Haarverlust und die unnatürlich glatte Haut, normal. Eine Strickmütze trug er tief in die Stirn gezogen.
Ich bekam Mitleid, als ich diese Verwüstungen betrachtete. Jeden Morgen in Rocketts Leben dieses Bild im Spiegel. In seinem Kopf, wenn ein Fremder in seine Richtung schaute. Wenn ein Kind ihn anstarrte oder vor Angst schrie.
O Gott. Was für ein Preis.
Mein Blick wanderte von Rockett zu dem anderen Mann, der bei ihm am Tisch saß. Drahtig, mit hagerem Gesicht und kleinen Nageraugen.
Nach einem schnellen Blick über die Schulter zog ich den zweiten Schnappschuss von der Tafel und steckte beide in meine Handtasche.
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