Totengeld
»Shoppingmeile« von Bagram bestand aus einem Gewirr von Läden und Kiosken, die vorwiegend örtlich hergestellte Produkte anboten. Sachen aus Messing, Holz oder Stoff. Schmuck. Teppiche. Das war so ziemlich alles.
»Führe mich, o Kaiserin des Shoppens.«
Sie tat es.
»Sind die Händler alle Afghanen?«, fragte ich.
»Ich glaube schon. Sie kommen in der Früh, passieren die Sicherheitskontrollen, betreiben ihre Stände, checken am Abend wieder aus und gehen nach Hause. Wir reden von sechzehn, siebzehn Stunden am Tag.«
Händler, an denen wir vorübergingen, luden uns höflich ein, ihre Waren zu begutachten. Hin und wieder blieben wir stehen. Ich bewunderte eben ein sehr fein gewebtes Tuch, als etwas meine freie Hand streifte. Ich drehte mich um.
Ein afghanisches Mädchen von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren stand vor mir und starrte mir mit ihren großen, braunen Augen ins Gesicht.
»Hallo.« Ich lächelte.
Das Mädchen flüsterte etwas auf Paschtu oder Dari. Ich verstand nur ein Wort. Allah.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich verstehe nicht.«
Hektisch nach links und rechts blickend, wiederholte sie, was sie gesagt hatte. Vielleicht. Wieder verstand ich nur Allah.
Wollte das Mädchen etwas? Oder wollte sie einfach nur ihre frohe Botschaft verbreiten?
Katy untersuchte ein Tuch an einem anderen Stand. Ich winkte sie zu mir.
»Verstehst du, was sie sagt?«
»Denk dir nichts.« Katy senkte die Stimme. »Sie ist ein bisschen daneben.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe sie das schon öfter tun sehen.«
»Was?«
»Frauen in Zivil anquatschen.« Katy schob mich um das Mädchen herum auf die Straße. »Eine meiner Stubenkameradinnen sagt, die Kleine spinnt.«
Ich ließ mich von ihr führen. Doch als wir wieder stehen blieben, schaute ich mich um.
Das Mädchen starrte mich direkt an. Dann kam vor meinen Augen ein Mann aus dem Laden und zog sie beiseite.
»Mom.«
Ich drehte mich zu Katy um.
»Schau dir das an.«
Etwas verwirrt versuchte ich mich auf den Teppich zu konzentrieren, der Katys Interesse geweckt hatte. Ich wollte gerade etwas sagen, als ein Heulen die Luft zerriss.
»Feindlicher Angriff.« Katy ließ den Teppich los. »Gehen wir.«
Wir rannten über die Straße, schlugen einen rechten Haken und stürzten in einen niedrigen, mit Sandsäcken bedeckten Betonbau. Auf den Bänken saßen bereits einige andere. Weitere folgten uns.
Binnen Sekunden war der Bunker voll. Ich spürte keine Panik, eher die gelassene Akzeptanz, die aus der Routine entsteht.
Während wir bei Sirenengeheul in der Dunkelheit warteten, spürte ich eine leichte Berührung an meiner Hand. Ich schaute nach links. Erkannte die Gestalt. Das Allah-Mädchen kauerte neben mir. Und neben ihr war der Mann, der sie in den Laden gezerrt hatte.
Zeit verging.
Das Mädchen war so nahe, dass ich ihren Körper zittern spürte. Irgendwann wimmerte sie. Der Mann redete scharf auf sie ein. Ich hörte das Wort Khandan. Ihr Name?
Schließlich kam die Entwarnung. Wir packten unsere Sachen und krochen nach draußen.
»Du nimmst das ja ziemlich cool«, sagte ich, während ich mir den Rucksack über die Schulter hängte.
Katy zuckte die Achseln. »Das ist eher lästig als sonst was. Man gewöhnt sich daran. Das Leben geht weiter.«
Normalerweise. Aber auf US-Stützpunkten waren schon viele bei Raketen-und Mörserangriffen gestorben.
Während wir redeten, gingen der Mann und das Mädchen an uns vorbei. Während er uns keines Blickes würdigte, schaute das Mädchen mich unverwandt an. Traurig? Verwirrt? Flehend?
Ja. Genau das quälte mich. Das Mädchen hatte so hilfsbedürftig gewirkt. Aber wobei brauchte sie Hilfe?
Dann war sie verschwunden.
»Was meinst du, was das Mädchen mir sagen wollte?«, fragte ich Katy.
»Ich hab’s dir gesagt. Die Kleine spinnt. Vergiss es.«
Ich versuchte es.
Aber als ich an diesem Abend allein auf meiner Pritsche lag, hatte ich das Gesicht des Mädchens vor Augen.
Wieder und wieder sah ich ihre dunklen, bittenden Augen.
25
Vierundzwanzig Stunden später dachte ich noch immer über das Mädchen nach.
Genauer gesagt, über zwei Mädchen.
Khandan in Bagram. Die Unbekannte in Charlotte.
Welsted hatte meine Rückflüge organisiert. Ich war mit der Sonne aufgestanden und hatte mich auf den Weg gemacht. Diese Reise über siebentausend Meilen, eine, die auch den hartgesottensten Globetrotter auf die Probe stellte, hatte traurig begonnen und sich schnell zu einem Albtraum entwickelt.
Am
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