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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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zu eng«, sagte ich und hielt es mir probeweise vor die Taille, »es sei denn, ich trag ein richtiges Korsett. Sonst platzen die Nähte.«
    »Vielleicht nicht. Du hast im Krankenhaus abgenommen.« Abby warf mir das Kleid über die Schulter. »Anprobieren.«
    Sie warf mir einen fragenden Blick zu, als ich zum Umziehen in mein Zimmer ging. Anscheinend war das ungewöhnlich, aber ich hatte keine andere Wahl, ich konnte nur hoffen, dass sie es sich mit Verlegenheit wegen des Verbandes oder so erklärte. Das Kleid passte tatsächlich, mehr oder weniger – es war so eng, dass sich der Verband abzeichnete, aber daran war ja nichts Verdächtiges. Ich vergewisserte mich rasch, dass der Draht nicht hervorlugte. Im Spiegel sah ich atemlos und übermütig und verwegen aus, zu allem bereit.
    »Hab ich doch gesagt«, sagte Abby, als ich herauskam. Sie wirbelte mich herum, band dann die Schärpe neu, damit die Schleife größer wirkte. »Komm, wir zeigen dich den Jungs, das wird sie umhauen.«
    Schon auf der Treppe riefen wir: »He, seht mal, was wir gefunden haben!«, und als wir ins Wohnzimmer kamen, war das Schleifgerät aus, und die Jungs warteten auf uns. »Oh, seht sie euch an!«, rief Justin. »Unser kleines Jazz-Baby!«
    »Perfekt«, sagte Daniel und lächelte mich an. »Einfach perfekt.«
    Rafe schwang ein Bein über die Klavierbank und ließ einen Finger schwungvoll über die Oktaven gleiten. Dann fing er an zu spielen, etwas Träges und Verführerisches mit leicht schrägem Swing. Abby lachte. Sie zog die Schleife meiner Schärpe noch einmal fest, ging dann zum Klavier und fing an zu singen. »Of all the boys I’ve known and I’ve known some, until I first met you I was lonesome … «
    Ich hatte Abby schon öfter singen hören, nur für sich allein, wenn sie dachte, es würde niemand zuhören, aber so noch nie. Diese Stimme: So eine hört man heutzutage nicht mehr, ein hinreißender, voller Alt wie aus klassischen Kriegsfilmen, eine Stimme wie geschaffen für verräucherte Nachtklubs und ondulierte Haare, knallroten Lippenstift und ein melancholisches Saxophon. Justin legte das Schleifgerät weg, knallte schneidig die Hacken zusammen und hielt mir seine Hand hin. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«, fragte er.
    Eine Sekunde lang war ich unsicher. Was, wenn Lexie nun zwei linke Füße gehabt hatte, was, wenn sie alles andere als zwei linke Füße gehabt hatte und meine Unbeholfenheit mich verriet, was, wenn er mich zu eng an sich drückte und die Akkus unter dem Verband spürte … Aber ich hab immer gern getanzt, und es war so lange her, seit ich zuletzt getanzt oder auch nur den Wunsch danach gehabt hatte, dass ich mich schon nicht mehr erinnern konnte, wann das war. Abby zwinkerte mir zu, ohne aus dem Takt zu kommen, und Rafe spielte eine kleine Riffeinlage, und ich ergriff Justins Hand und ließ mich ins freigeräumte Wohnzimmer ziehen.
    Er war gut: geschmeidige Schritte und seine Hand fest in meiner, während er mich in langsamen Kreisen durch den Raum dirigierte, die Dielen weich und warm und staubig unter meinen Füßen. Und ich hatte doch noch nichts verlernt, ich trat Justin nicht auf die Füße und stolperte auch nicht über meine eigenen. Mein Körper wiegte sich so sicher und biegsam mit seinem, als wäre ich noch nie im Leben gegen irgendeinen Stuhl gestoßen. Ich hätte nicht einen Fuß falsch setzen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Sonnenlichtstreifen flirrten mir vor den Augen, Daniel lehnte an der Wand und lächelte, ein zerknautschtes Stück Schleifpapier vergessen in der Hand, mein Rock wirbelte hoch wie eine Glocke, während Justin mich von sich wegschwang und wieder zurückholte. »And so I rack my brain trying to explain all the things that you do to me … « Geruch von Poliermittel, und das Sägemehl, das träge durch die langen Lichtsäulen wogte. Abby, eine offene Hand erhoben und den Kopf nach hinten geworfen, den Hals gereckt, während der Song aufflog, durch die leeren Räume und die ramponierten Decken hinaus, dem ganzen leuchtenden Sonnenuntergangshimmel entgegen.
    Plötzlich fiel mir wieder ein, wann ich zuletzt so getanzt hatte: Rob und ich, auf dem Dach des Anbaus unter meiner Wohnung, an dem Abend, bevor alles furchtbar aus dem Ruder gelaufen war. Irgendwie tat es nicht mal weh. Es war so weit weg. Ich war fest zugeknöpft und unberührbar in meinem blauen Kleid, und es war etwas Süßes und Trauriges, das irgendeiner anderen Frau passiert war, vor langer Zeit. Rafe

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