Totengleich
Scheiben. Der Wagen stand etwa fünfzig Meter von der Abzweigung entfernt, und die Straße war von weiten offenen Flächen gesäumt – hohes Gras, zottelige Brennnesseln, ein alter, leicht schiefer Meilenstein –, daher gab es keine Deckung. Es wäre zu riskant, so nahe ranzugehen, bis ich das Nummernschild lesen konnte. Mein großer Unbekannter tätschelte die Motorhaube liebevoll, stieg ein, knallte die Tür zu laut zu – jähe, eisige Stille in den Bäumen um mich herum – und blieb eine Weile einfach sitzen, dachte über Dinge nach, über die Typen wie er so nachdenken, wahrscheinlich seine Frisur. Dann ließ er den Motor aufheulen und donnerte die Straße hinunter Richtung Dublin.
Als ich sicher war, dass er nicht zurückkam, kletterte ich wieder auf meinen Baum und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass dieser Kerl mich schon eine Weile beobachtet hatte, dass das elektrisierte Gefühl in meinem Nacken von ihm kam, aber das bezweifelte ich. Was immer er gesucht hatte, er war nicht besonders verstohlen unterwegs gewesen, und ich hatte nicht den Eindruck gehabt, dass es zu seinen Fähigkeiten gehörte, lautlos durch die freie Natur zu pirschen. Was da auch immer knapp außerhalb meines Gesichtsfeldes lauerte, würde sich nicht so leicht zu erkennen geben.
In einem war ich mir sicher: Weder Sam noch Frank mussten vorläufig von meinem Protzkarrenbesitzer erfahren, solange ich nichts Konkreteres vorzuweisen hatte. Sam würde einen Anfall kriegen, wenn er herausfand, dass ich mich auf derselben nächtlichen Route vor fremden Männern versteckte, auf der es Lexie nicht gelungen war, sich vor ihrem Mörder zu verstecken. Frank würde das überhaupt keine Kopfschmerzen bereiten – er war schon immer davon ausgegangen, dass ich sehr gut auf mich allein aufpassen kann –, aber wenn ich es ihm sagte, würde er die Sache in die Hand nehmen, er würde diesen Kerl aufspüren und ihn einkassieren und ihn knallhart verhören, und das wollte ich nicht. Etwas in mir sagte, dass das der falsche Weg war. Und noch etwas anderes, tiefer in mir, sagte, dass es Frank eigentlich nichts anging. Er war per Zufall in den Fall hineingestolpert. Das hier war eine Sache zwischen Lexie und mir.
Ich rief ihn trotzdem an. Wir hatten an dem Abend schon miteinander gesprochen, und es war spät, aber er meldete sich auf Anhieb. »Ja? Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Entschuldige, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Ich wollte dich bloß was fragen, ehe ich es wieder vergesse. Seid ihr bei den Ermittlungen auf einen Typen gestoßen, eins achtzig, kräftig, Ende zwanzig, gutaussehend, helles Haar, modische Frisur, braune Edellederjacke?«
Frank gähnte, was mir ein schlechtes Gewissen machte, aber mich auch ein wenig erleichterte: Gut zu wissen, dass er tatsächlich ab und an mal schlief. »Wieso?«
»Vor ein paar Tagen hat mich an der Uni ein Typ angelächelt und genickt, als würde er mich kennen. Er ist nicht auf der BK-Liste. Ist eigentlich nicht wichtig – schließlich hat er sich nicht so verhalten, als wären wir Busenfreunde oder so –, aber ich dachte, ich frag mal nach. Ich will nicht dumm dastehen, wenn wir uns noch mal über den Weg laufen.« Das stimmte übrigens, nur dass der fragliche Typ klein und mager und rothaarig gewesen war. Ich hatte mir zehn Minuten lang den Kopf zerbrochen, bis mir klar wurde, woher er mich kannte. Er saß immer in unserer Ecke der Bibliothek.
Frank dachte nach. Ich hörte Bettwäsche rascheln, als er sich umdrehte. »Da klingelt nichts bei mir«, sagte er. »Der Einzige, der mir einfällt, wäre der doofe Eddie – Daniels Cousin. Er ist neunundzwanzig und trägt eine braune Lederjacke, und ich schätze, er könnte als gutaussehend durchgehen, wenn man auf groß und blöd steht.«
»Nicht dein Typ?« Noch immer kein N. Warum zum Teufel sollte der doofe Eddie um Mitternacht in der Gegend von Glenskehy herumschleichen?
»Ich steh auf etwas mehr Oberweite. Eddie sagt jedenfalls, er ist Lexie nie begegnet. Und ich wüsste auch nicht, wo und wie. Er und Daniel verstehen sich nämlich nicht. Höchst unwahrscheinlich, dass Eddie auf ein Tässchen Tee im Haus vorbeischauen oder mit der Truppe einen trinken gehen würde. Und er wohnt in Bray, arbeitet in Killiney. Ich wüsste keinen Grund, warum er an der Uni gewesen sein soll.«
»Alles klar«, sagte ich. »Wahrscheinlich bloß irgendein Kommilitone. Schlaf weiter. Tut mir
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