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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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durfte. Und er hätte sie getötet.

    Am nächsten Morgen spuckte jemand auf unser Auto. Wir waren auf dem Weg zur Uni, Justin und Abby saßen vorne, Rafe und ich hinten – Daniel war schon früher gefahren, ohne Erklärung, als wir Übrigen noch beim Frühstück saßen. Es war ein kühler grauer Morgen, dämmrige Stille lag in der Luft, und feiner Nieselregen ließ die Fenster beschlagen; Abby blätterte irgendwelche Notizen durch, summte zu einer Mahler-CD und legte gelegentlich dramatische Oktavsprünge ein. Rafe hatte einen Schuh ausgezogen und versuchte, den chaotisch verknoteten Schnürsenkel zu entwirren. Als wir durch Glenskehy kamen, bremste Justin vor dem Zeitschriftenladen, um jemanden über die Straße zu lassen: einen alten Mann, gebeugt und drahtig, in einem bäuerlichen, abgetragenen Tweedanzug, eine Schirmmütze auf dem Kopf. Er hob seinen Gehstock wie zum Gruß, als er vorbeischlurfte, und Justin winkte zurück.
    Dann fing der Mann Justins Blick auf. Er blieb mitten auf der Straße stehen und starrte uns durch die Windschutzscheibe an. Für den Bruchteil einer Sekunde verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze der Wut und Verachtung. Dann schlug er mit seinem Stock auf die Motorhaube, und der dumpfe Knall riss den Morgen in Stücke. Wir fuhren alle hoch, aber ehe einer von uns etwas Vernünftiges tun konnte, räusperte sich der Alte, spuckte auf die Scheibe – genau vor Justins Gesicht – und humpelte in dem gleichen bedächtigen Tempo weiter über die Straße.
    »Was –«, sagte Justin tonlos. »Was sollte denn der Scheiß? Was war das?«
    »Die mögen uns nicht«, sagte Abby ruhig und griff rüber, um die Scheibenwischer anzumachen. Die Straße war lang und verlassen, kleine pastellfarbene Häuser im Regen dicht zusammengedrängt, dahinter dunkle Hügelschatten. Nirgendwo rührte sich etwas, nur das langsame mechanische Schlurfen des Alten und etwas weiter die Straße runter das Beben einer Gardine. »Fahr weiter, Justin.«
    »So ein Arschloch«, sagte Rafe. Er hielt seinen Schuh wie eine Waffe umklammert, die Knöchel weiß. »Du hättest ihn über den Haufen fahren sollen, Justin. Du hättest sein Zwergenhirn auf der Straße verteilen sollen.« Er fing an, sein Fenster runterzukurbeln.
    »Rafe«, sagte Abby schneidend. »Mach das wieder zu. Los.«
    »Warum? Warum sollen wir uns das gefallen lassen?«
    »Weil«, sagte ich mit dünner Stimme, »ich heute Abend meinen Spaziergang machen will.«
    Augenblicklich erstarrte Rafe, genau wie ich es erwartet hatte. Er sah mich an, eine Hand noch immer an der Fensterkurbel. Justin würgte den Motor mit einem grässlichen mahlenden Geräusch ab, ließ ihn hektisch wieder an und gab Vollgas. »Charmant«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst: Gemeinheiten in jeder Form brachten ihn unweigerlich aus der Fassung. »Das war echt charmant. Ich meine, mir ist klar, dass sie uns nicht mögen, aber das war ja wohl absolut überflüssig. Ich hab dem Mann doch nichts getan. Ich hab angehalten, um ihn rüberzulassen. Wieso hat er das gemacht?«
    Ich war ziemlich sicher, die Antwort zu kennen. Sam hatte Glenskehy in den letzten Tagen unsicher gemacht. Da kommt ein Detective in seinem feschen Anzug aus Dublin angegondelt, spaziert in ihre Wohnzimmer und stellt Fragen, buddelt geduldig ihre begrabenen Geschichten wieder aus, und das alles, bloß weil ein Mädchen aus dem Herrenhaus ein Messer in den Bauch gekriegt hat. Sam war bei seiner Arbeit bestimmt freundlich und geschickt vorgegangen, wie immer. Ihr Zorn würde sich nicht gegen ihn richten.
    »Nur so«, sagte Rafe. Er und ich hatten uns auf der Rückbank umgedreht und beobachteten den Alten, der vor dem Zeitschriftenladen auf dem Bürgersteig stand und hinter uns herstarrte. »Er hat es getan, weil er ein schwachsinniger Arsch ist und jeden hasst, der nicht gerade seine Frau oder seine Schwester oder beides ist. Das ist hier die reinste Inzesthölle.«
    »Weißt du was?«, sagt Abby kalt, ohne sich umzudrehen. »Deine Kolonialherrenattitüde geht mir echt auf den Geist. Bloß weil er nicht auf irgendein englisches Edelinternat gegangen ist, ist er noch lange nicht weniger wert als du. Und wenn Glenskehy dir nicht fein genug ist, dann musst du dir eben was Besseres suchen.«
    Rafe öffnete den Mund, zuckte dann angewidert die Achseln und klappte ihn wieder zu. Er zog mit einem heftigen Ruck an seinem Schnürsenkel, der prompt riss. Rafe stieß einen leisen Fluch aus.
    Wäre der Mann dreißig oder vierzig Jahre

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