Totengleich
leid, dass ich dich geweckt hab.«
»Macht nichts«, sagte Frank und gähnte erneut. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sprich einen Bericht auf Band, mit der genauen Beschreibung – und wenn du ihn noch mal siehst, sag Bescheid.« Er schlief schon halb.
»Mach ich. Nacht.«
Ich blieb noch ein paar Minuten ruhig in meinem Baum sitzen und lauschte auf irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche. Nichts. Bloß die Büsche unter mir, die wie ein Ozean im Wind wogten, und dieses Prickeln, schwach und unmöglich zu ignorieren, oben an meiner Wirbelsäule. Ich sagte mir, wenn irgendetwas meine Phantasie überhitzen würde, dann wahrscheinlich die Geschichte, die Sam mir erzählt hatte: die junge Frau, die ihren Geliebten, ihre Familie, ihre Zukunft verloren hatte und die aus Verzweiflung, weil ihr und ihrem Baby nichts mehr geblieben war, einen Strick an einen dieser dunklen Äste geknotet hatte. Ich rief Sam an, ehe ich allzu lange darüber nachdenken konnte.
Er war noch immer hellwach. »Was war denn los? Alles in Ordnung mit dir?«
»Alles bestens«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Ich dachte, ich hätte jemand kommen gehört. Ich hab mir schon Franks geheimnisvollen Stalker vorgestellt, mit Hockeymaske und Kettensäge, aber leider nein.« Auch das stimmte natürlich, aber für Sam die Fakten zu verdrehen war etwas anderes, als sie für Frank zu verdrehen, und mir zog sich der Magen zusammen.
Eine Sekunde Stille. »Ich hab Angst um dich«, sagte Sam leise.
»Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Ich weiß. Mir geht’s ehrlich gut. Ich bin bald wieder zu Hause.«
Ich meinte, ihn seufzen zu hören, ein kurzes resigniertes Atmen, zu leise, um mir ganz sicher sein zu können. »Ja«, sagte er. »Dann können wir ja auch über den Urlaub sprechen.«
Auf dem Nachhauseweg dachte ich über Sams Vandalen nach, über dieses Prickeln im Nacken und über den doofen Eddie. Über ihn wusste ich lediglich, dass er in einer Immobilienagentur arbeitete, er und Daniel nicht miteinander konnten, Frank ihn nicht gerade für einen hellen Kopf hielt und er seinen Großvater für verrückt erklärt hatte, weil er sich Whitethorn House unbedingt selbst unter den Nagel hatte reißen wollen. Ich spielte ein paar Szenarien durch – ein blutrünstiger irrer Eddie, der die Bewohner von Whitethorn House nacheinander niedermeuchelt, Eddie, der Casanova, der eine gefährliche Liebschaft mit Lexie hat und ausflippt, als er von dem Baby erfährt –, aber alle schienen ziemlich weithergeholt, und überhaupt, ich hoffte doch, dass Lexie nicht so geschmacklos war, es mit irgendeinem blöden Yuppie auf der Rückbank eines Geländewagens zu treiben.
Falls er nicht gefunden hatte, was er suchte, bestand die Aussicht, dass er zurückkommen würde – es sei denn, er hatte sich bloß ein letztes Mal das Haus, das er geliebt und verloren hatte, und die Umgebung anschauen wollen, und so sentimental kam er mir eigentlich nicht vor. Ich sortierte ihn unter »Dinge, über die ich ein anderes Mal nachdenke« ein. Im Augenblick belegte er auf meiner Liste keinen Spitzenplatz. Es gab etwas, was ich Sam nicht erzählte, etwas neues Dunkles, das allmählich irgendwo in meinem Hinterkopf flatternd Gestalt annahm: Irgendjemand hegte einen erbitterten Groll gegen Whitethorn House; irgendjemand hatte sich auf diesen Feldwegen mit Lexie getroffen, jemand Gesichtsloses, der mit einem N anfing; und irgendjemand hatte mit ihr dieses Baby gemacht. Wenn diese drei ein und dieselbe Person waren … Sams Vandale hatte wahrscheinlich nicht alle Tassen im Schrank, aber er könnte durchaus clever genug sein – zumindest in nüchternem Zustand –, das zu verbergen. Er könnte attraktiv sein, charmant, alle möglichen anziehenden Eigenschaften haben, und wir wussten ja schon, dass Lexies Entscheidungsfindungsprozess anders ablief als bei den meisten Menschen. Vielleicht hatte sie eher auf düstere Typen gestanden. Ich dachte an eine zufällige Begegnung auf irgendeinem Feldweg, an lange Spaziergänge zu zweit unter einem hohen Wintermond und an filigran vereiste Zweige. An das Lächeln, das unter ihren Wimpern aufschien, an das verfallene Cottage und Schutz hinter dem Vorhang aus Brombeerranken.
Wenn der Mann, den ich mir vorstellte, die Chance gesehen hatte, ein Whitethorn-House-Mädchen zu schwängern, musste ihm das wie ein Gottesgeschenk erschienen sein, eine vollkommene blinde Symmetrie: ein goldener Ball, den Engel ihm zuspielten und der nicht verweigert werden
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