Totengleich
bis an ihr seliges Ende lebte.
Unten hörte ich Justin etwas sagen und Abby lachen, schwach und weit weg. Wir drei sprachen nicht. Das einzige Geräusch war das leise, stetige Rascheln von Papier. Das Zimmer war kühl und dämmrig, ein verschwommener Mond hing vor dem Fenster, und die Seiten hinterließen eine trockene Staubschicht an meinen Fingern.
»Ha, hier steht was«, sagte Rafe plötzlich. »›William March wurde Opfer eines großen ungerechten und‹ – sensationslüsternen? – irgendwas, das ihn letztlich ›sowohl seine Gesundheit als auch‹ … ? Mannomann, Daniel. Dein Onkel muss hackevoll gewesen sein. Was ist das überhaupt für eine Sprache?«
»Zeig mal«, sagte Daniel und beugte sich vor. »›Sowohl seine Gesundheit als auch seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft kostete‹, glaub ich.« Er nahm Rafe die Seiten weg und rückte seine Brille zurecht. »›Die Fakten‹«, las er langsam und fuhr dabei mit dem Finger an der Zeile entlang, »›von allem Geschwätz der Klatschmäuler entkleidet, sind wie folgt: Von 1914 bis 1915 diente William March im Weltkriege, wo er sich‹ – das muss ›wacker‹ heißen – ›schlug und später wegen Tapferkeit vor dem Feind mit dem Military Cross ausgezeichnet wurde. Schon dies allein hätte alles gemeine Geschwätz‹ – irgendwas. ›Im Jahr 1915 wurde William March aus der Armee entlassen, nachdem er durch ein Schrapnell an der Schulter verwundet worden war und einen Schützengrabenschock erlitten hatte –‹«
»Posttraumatischer Stress«, sagte Rafe. Er hatte sich gegen die Wand gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Armer Teufel.«
»Die Passage kann ich nicht lesen«, sagte Daniel. »Es geht um das, was er im Krieg gesehen hat, vermute ich. Das da soll wohl ›grausam‹ heißen. Dann steht da: ›Er löste seine Verlobung mit Miss Alice West und nahm keinerlei Anteil an den Vergnügungen seiner Kreise, sondern zog es vor, seine Zeit mit den einfachen Menschen im Dorf Glenskehy zu verbringen, was beide Seiten mit großer Sorge erfüllte. Allen Beteiligten war klar, diese‹ – unnatürliche, glaub ich – ›Verbindung konnte kein glückliches Ende nehmen.‹«
»Snobs«, sagte Rafe.
»Musst du gerade sagen«, konterte ich und rutschte über den Boden, um mein Kinn auf Daniels Schulter zu stützen und auf den Text zu starren. Bislang keine Überraschungen, aber ich wusste – konnte kein glückliches Ende nehmen –, das war’s.
»›Etwa um diese Zeit‹«, las Daniel und hielt die Seite schräg, um besser sehen zu können, »›stellte eine junge Frau aus dem Dorf fest, dass sie in anderen Umständen war, und benannte William March als den Vater ihres ungeborenen Kindes. Ungeachtet dessen, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht, waren die Menschen in Glenskehy, die damals, anders als heutzutage, einer hohen Moral anhingen‹« – Moral war doppelt unterstrichen –, »›ob ihres losen Lebenswandels entsetzt. Das ganze Dorf war einhellig der festen‹ – Überzeugung? –, ›dass die junge Frau ihre Schande aus ihrer Mitte entfernen und in ein Magdalenenkloster gehen sollte, und bis dies geschah, machten sie sie zu einer Ausgestoßenen unter ihnen.‹«
Kein Happy End, kein kleiner Miederwarenladen in London. Manche Mädchen entkamen den Wäschereien der Magdalenen nie mehr. Sie blieben Sklavinnen – weil sie schwanger geworden waren, vergewaltigt worden waren, verwaist oder zu hübsch waren –, bis sie in namenlosen Gräbern verschwanden.
Daniel las weiter, ruhig und einförmig. Ich spürte die Vibration seiner Stimme an meiner Schulter. »›Die junge Frau jedoch nahm sich das Leben, entweder weil sie an ihrem Seelenheil verzweifelte oder nicht bereit war, die verlangte Buße zu tun. William March ging dies sehr nahe – mag sein, dass er tatsächlich in Sünde mit ihr vereint gewesen war, mag sein, dass er bereits zu viel Blutvergießen erlebt hatte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, und als er sich wieder erholte, verließ er Familie, Freunde und Heimat, um irgendwo neu anzufangen. Über sein späteres Leben ist wenig bekannt. Diese Ereignisse mögen als Lehre verstanden werden, die uns vor den Gefahren der Begierde ebenso warnt wie vor dem Umgang mit Menschen außerhalb des Standes, dem wir angehören, ebenso wie … ‹« Daniel brach ab. »Den Rest kann ich nicht lesen. Aber das ist auch sowieso alles über William. Im nächsten Abschnitt geht’s um ein Rennpferd.«
»Meine
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