Totengleich
meine Hand mit seiner und drückte sie fest.
15
Am nächsten Morgen war ich erst kurz vor elf in der Dubliner Burg. Ich wollte den Tag möglichst normal angehen – Frühstück, die Fahrt in die Stadt, Arbeit in der Bibliothek. Ich dachte mir, das würde die anderen beruhigen und sie eher davon abhalten, mich begleiten zu wollen. Und es klappte. Als ich aufstand und anfing, meine Jacke anzuziehen, fragte Daniel zwar: »Soll ich zur moralischen Unterstützung mitkommen?«, aber als ich den Kopf schüttelte, nickte er nur und versenkte sich wieder in sein Buch. »Mach auf jeden Fall das mit dem zittrigen Finger«, riet Rafe mir. »Das wird O’Neill begeistern.«
Vor dem Eingang zum Morddezernat bekam ich kalte Füße. Ich konnte einfach nicht da reingehen, mich wie eine Besucherin an der Aufnahme melden, quälend heiteren Smalltalk mit Bernadette, der Dezernatssekretärin, machen und unter den faszinierten Blicken der Vorübergehenden darauf warten, dass irgendwer mich abholte und über die Flure führte, als wäre ich noch nie hier gewesen. Ich rief Frank und sagte, er sollte mich holen kommen.
»Gutes Timing«, sagte er, als er den Kopf zur Tür heraussteckte. »Wir machen gerade ein Päuschen, um sozusagen die Situation neu einzuschätzen.«
»Was neu einzuschätzen?«, fragte ich.
Er hielt mir die Tür auf und trat beiseite. »Wirst du schon sehen. War ein rundum spaßiger Morgen. Ihr habt unseren Burschen ganz schön zugerichtet, was?«
Er hatte recht. John Naylor saß mit verschränkten Armen am Tisch in einem Vernehmungsraum, trug denselben farblosen Schlabberpullover und eine alte Jeans, und er sah nicht mehr gut aus. Beide Augen waren fast zugeschwollen; eine Wange war ganz schief, lila verfärbt und dick. In der Unterlippe hatte er einen dunklen Riss, und sein Nasenrücken sah schrecklich eingedrückt aus. Ich stellte mir vor, wie seine Finger nach meinen Augen griffen, seine Knie in meinem Bauch, aber ich konnte diese Erinnerungen nicht mit dem misshandelten Mann da in Verbindung bringen, der seinen Stuhl nach hinten gekippelt hatte und »The Rising of the Moon« vor sich hin summte. Sein Anblick, was wir ihm angetan hatten, schnürte mir die Kehle zu.
Sam war im Beobachtungsraum, lehnte an der Einwegscheibe, die Hände tief in den Jackentaschen, und betrachtete Naylor. »Cassie«, sagte er und blinzelte. Er sah übermüdet aus. »Hi.«
»Du liebe Güte«, sagte ich und nickte Richtung Naylor.
»Das kann man wohl sagen. Er behauptet, er wäre mit dem Fahrrad gestürzt, Kopf voran gegen eine Mauer. Und mehr ist nicht aus ihm rauszukriegen.«
»Ich hab Cassie gerade schon gesagt«, warf Frank ein, »dass wir hier ein kleines Problem haben.«
»Ja«, sagte Sam. Er rieb sich die Augen, als versuchte er, wach zu werden. »Ein Problem, ja. Wir haben Naylor so gegen acht hergeholt. Seitdem vernehmen wir ihn, und er liefert uns nichts. Glotzt bloß die Wand an und singt vor sich hin. Hauptsächlich Protestlieder.«
»Bei mir hat er eine Ausnahme gemacht«, sagte Frank. »Hat sein Konzert unterbrochen und mich als dreckigen Dubliner Wichser bezeichnet, der sich schämen sollte, den Briten in den Arsch zu kriechen. Ich glaub, er mag mich. Aber jetzt kommt’s: Wir haben uns einen Durchsuchungsbeschluss für seine Bude besorgt, und die Spurensicherung hat ihre Funde gerade reingereicht. Natürlich hatten wir auf ein blutiges Messer oder blutige Kleidung oder so was gehofft, aber das wäre ja auch zu schön gewesen. Stattdessen … große Überraschung.«
Er nahm ein paar Beweismittelbeutel von dem Tisch in der Ecke und hielt sie mir hin. »Sieh dir das an.«
Sie enthielten einen Satz Würfel aus Elfenbein, einen Handspiegel mit Schildpattrückseite, ein kleines stümperhaftes Aquarellgemälde von einer Landstraße und eine silberne Zuckerdose. Noch bevor ich die Dose umdrehte und das Monogramm sah – ein zartes, verschnörkeltes M –, wusste ich, woher die Sachen stammten. Ich kannte nur einen Ort, der ein solches Sammelsurium von Plunder aufzuweisen hatte: Onkel Simons Haus.
»Das lag alles unter Naylors Bett«, sagte Frank, »hübsch verpackt in einem Schuhkarton. Ich garantiere dir, wenn du dich mal gründlich in Whitethorn House umsiehst, findest du ein passendes Milchkännchen. Womit wir bei der Frage wären: Wie kommt das Zeug in Naylors Schlafzimmer?«
»Er ist eingebrochen«, sagte Sam. Er hatte sich wieder umgedreht und starrte Naylor an, der schlaff auf seinem Stuhl saß und zur Decke
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