Totengleich
Kretin«, sagte ich. Doherty hatte zu meinem Erstaunen ganze zwei Stunden durchgehalten, ohne mich mit »Detective« anzureden, daher war ich gnädig gestimmt. »Er hat nur Geschmack.«
»Und ich behaupte noch immer, dass sie nichts tun werden«, sagte Rafe, aber nicht bissig. Ob es mit irgendetwas zu tun hatte, was Frank ihnen gesagt hatte, oder ob sie einfach nur erleichtert waren, den Besuch überstanden zu haben, jedenfalls sahen sie alle besser aus: lockerer, unbeschwerter. Die schneidende Anspannung von letzter Nacht war abgeklungen, zumindest vorläufig.
»Warten wir’s ab«, sagte Daniel und senkte den Kopf zu einem Streichholz, um seine Zigarette anzuzünden. »Wenigstens hast du Vier-Titten-Brenda jetzt was zu erzählen, wenn sie dich das nächste Mal gegen den Kopierer drückt.« Sogar Rafe musste lachen.
An dem Abend tranken wir Wein und spielten Hundert und Zehn, als mein Handy klingelte. Ich erschrak zu Tode – schließlich wurde keiner von uns oft angerufen – und hätte den Anruf fast verpasst, weil ich mein Handy erst suchen musste. Es war im Garderobenschrank, noch immer in der Tasche der Gemeinschaftsjacke nach meinem Spaziergang vom Vorabend. »Hallo?«, sagte ich.
»Miss Madison?«, sagte Sam. Er hörte sich unsicher an. »Hier spricht Detective O’Neill.«
»Oh«, sagte ich. Ich war auf dem Rückweg ins Wohnzimmer gewesen, machte nun aber kehrt und lehnte mich gegen die Haustür, wo die anderen mich unmöglich hören konnten. »Hi.«
»Kannst du sprechen?«
»So einigermaßen.«
»Bist du okay?«
»Ja. Mir geht’s gut.«
»Ehrlich?«
»Ehrenwort.«
»Menschenskind«, sagte Sam und atmete tief aus. »Gott sei Dank. Mackey, dieses Arschloch, hat sich die ganze Sache angehört, wusstest du das? Hat mich nicht angerufen, kein Wort gesagt, hat seelenruhig bis heute Morgen abgewartet und ist dann zu dir rausgefahren. Lässt mich da im SOKO-Raum rumsitzen wie einen Vollidioten. Verdammt, wenn der Fall nicht bald abgeschlossen wird, mach ich aus dem Wichser noch Hackfleisch.«
Sam flucht fast nie, außer er ist wirklich fuchsteufelswild. »In Ordnung«, sagte ich. »Wundert mich nicht.«
Kurzes Schweigen. »Die anderen sind da, stimmt’s?«
»Mehr oder weniger.«
»Dann fass ich mich kurz. Wir haben Byrne zu Naylors Haus geschickt, um einen Blick auf ihn zu werfen, wenn er von der Arbeit kommt, und das Gesicht von dem Burschen ist grün und blau – ihr drei habt’s ihm anscheinend richtig gegeben. Er ist es, keine Frage. Ich hol ihn morgen her – diesmal ins Morddezernat. Interessiert mich nicht mehr, ob ich ihn damit aufscheuche. Notfalls kann ich ihn wegen Einbruchs festhalten. Willst du herkommen und ihn dir ansehen?«
»Klar«, sagte ich. Ein großer Teil von mir wollte kneifen, wollte morgen den Tag zusammen mit den anderen in der Bibliothek verbringen, in der Mensa essen und dem Regen draußen vor den Fenstern zusehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was demnächst passieren könnte, solange das noch ging. Doch was immer diese Vernehmung ergab, ich musste dabei sein. »Wann?«
»Ich fang ihn ab, wenn er zur Arbeit will, und müsste gegen acht mit ihm hier sein. Komm, wann du möchtest. Macht es … Macht es dir was aus, ins Dezernat zu kommen?«
Ich hatte vergessen, mir darüber überhaupt Gedanken zu machen. »Kein Problem.«
»Er passt ins Profil, nicht? Haargenau.«
»Kann sein«, sagte ich. »Ja.«
Im Wohnzimmer stöhnte Rafe theatralisch auf – anscheinend hatte er gerade verloren –, und die anderen prusteten los. »Du Mistkerl«, sagte Rafe, aber auch er lachte, »du durchtriebener Mistkerl, und ich fall immer wieder drauf rein … «
Sam hat eine gute Vernehmungstaktik. Falls aus Naylor irgendetwas rauszuholen war, würde er es wahrscheinlich schaffen.
»Das könnte es jetzt sein«, sagte Sam. Die Hoffnung in seiner Stimme ließ mich zusammenfahren, so intensiv war sie. »Wenn ich morgen geschickt vorgehe, könnte es vorbei sein. Du könntest nach Hause kommen.«
»Ja«, sagte ich. »Klingt gut. Bis morgen.«
»Ich liebe dich«, sagte Sam mit leiser Stimme, kurz bevor er auflegte. Ich blieb noch einen langen Moment in dem kalten Flur stehen, kaute auf dem Daumennagel und lauschte auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer – Stimmen und das Klatschen von Karten, Gläserklimpern, das Knistern und Prasseln des Feuers –, ehe ich wieder hineinging.
»Wer war das?«, fragte Daniel und blickte von seinem Blatt auf.
»Dieser Detective«, sagte ich.
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