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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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demonstrieren, dass er mir schon mit kleinen Dingen das Leben äußerst schwermachen konnte, wenn ich darauf beharrte, länger zu bleiben.
    Ich wollte mich auf keinen Fall zum Idioten machen, indem ich den ganzen Abend über Stimme und Identität schwafelte, während mein Zuhörer genau wusste, dass ich Blödsinn redete. Zum Glück für mich war Lexie eine unberechenbare freche Göre gewesen – obwohl es vermutlich nichts mit Glück zu tun gehabt hatte: Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich diesen Charakterzug für Situationen zugelegt hatte, die meiner jetzigen nicht unähnlich waren. »Hab keine Lust«, sagte ich, hielt den Kopf gesenkt und stocherte mit der Gabel in meiner Lasagne herum.
    Kurzes Schweigen trat ein. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Justin.
    Ich zuckte die Achseln, ohne aufzublicken. »Jaja.«
    Mir war gerade etwas klargeworden. Dieses Schweigen und die haarfeine neue Anspannung in Justins Stimme und die kurzen Blicke, die über den Tisch hin und her huschten: Die anderen waren so schnell und so leicht zu beunruhigen. Da hatte ich mich all die Wochen bemüht, sie lockerer zu machen, damit sie nicht immer auf der Hut waren, und war dabei nie auf den Trichter gekommen, wie schnell ich sie in die andere Richtung katapultieren konnte und wie gefährlich diese Waffe war, wenn ich sie richtig einsetzte.
    »Ich hab dir auch bei Ovid geholfen«, rief Daniel mir in Erinnerung. »Weißt du nicht mehr? Ich hab eine Ewigkeit nach dem Zitat gesucht, das du brauchtest – welches war das noch mal?«
    Auch darauf ging ich natürlich nicht ein. »Ich würde eh nur alles durcheinanderbringen und dir am Ende was über Mary Barber erzählen oder Gott weiß wen. Ich kann heute keinen klaren Gedanken fassen. Ich muss andauernd … « Ich schubste Lasagnestücke ziellos auf dem Teller herum. »Egal.«
    Keiner aß mehr. »Du musst was andauernd?«, fragte Abby.
    »Lass gut sein«, sagte Rafe. »Ich hab jedenfalls keinen Bock auf Anne Finch. Wenn es ihr genauso geht –«
    »Beunruhigt dich irgendwas?«, fragte Daniel höflich.
    »Lass sie in Frieden.«
    »Ja klar«, sagte Daniel. »Leg dich ein bisschen hin, Lexie. Wir machen das ein andermal, wenn du dich besser fühlst.«
    Ich riskierte einen raschen Blick. Er hatte wieder sein Besteck genommen und aß bedächtig, mit nichts als einem nachdenklich vertieften Ausdruck im Gesicht. Dieser Schuss war nach hinten losgegangen, und jetzt überlegte er sich seelenruhig und konzentriert den nächsten.

    Ich entschied mich für einen Präventivschlag. Nach dem Essen saßen wir alle im Wohnzimmer und lasen oder taten jedenfalls so – niemand hatte irgendeine gemeinsame Aktivität wie Kartenspielen auch nur vorgeschlagen. Die Asche im Kamin vom Vorabend verbreitete eine feuchte Kühle in der Luft, ferne Teile des Hauses gaben gelegentlich ein jähes Knarren oder unheimliches Stöhnen von sich, was uns jedes Mal zusammenfahren ließ. Rafe kickte mit der Spitze eines Schuhs gegen das Schutzgitter vor dem Kamin, in einem stetigen, nervigen Rhythmus, und ich rutschte in meinem Sessel unruhig hin und her, veränderte alle paar Sekunden die Sitzposition. Justin und Abby, die zwischen uns saßen, wurden mit jeder Sekunde nervöser. Daniel, den Kopf über irgendetwas mit furchtbar vielen Fußnoten gebeugt, schien nichts zu bemerken.
    Gegen elf ging ich wie immer in die Diele und zog mich für meinen Spaziergang an. Dann ging ich zurück und blieb in der Tür stehen, mit unschlüssiger Miene.
    »Gehst du spazieren?«, fragte Daniel.
    »Ja, sagte ich. »Beruhigt vielleicht meine Nerven. Justin, kommst du mit?«
    Justin schreckte auf, starrte mich an wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Ich? Wieso ich?«
    »Wieso überhaupt jemand?«, fragte Daniel mit leichter Neugier.
    Ich zuckte die Achseln, ein beklommener Ruck. »Ich weiß nicht, okay? Mein Kopf fühlt sich komisch an. Ich muss andauernd denken … « Ich drehte mir den Schal um den Finger, biss mir auf die Lippe. »Vielleicht hatte ich gestern Nacht böse Träume.«
    »Alpträume«, sagte Rafe, ohne aufzusehen. »Nicht ›böse Träume‹. Du bist keine sechs mehr.«
    »Was für böse Träume?«, fragte Abby. Sie hatte eine winzige besorgte Furche zwischen den Augenbrauen.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr. Nicht so richtig. Bloß … Mir ist einfach nicht danach, allein da draußen rumzulaufen.«
    »Mir auch nicht«, sagte Justin. Er wirkte richtig aufgebracht. »Ich find’s furchtbar da draußen –

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