Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
alle geflüstert. Abby war in der Schlange neben meiner. Sie fing meinen Blick auf, zeigte auf eins der Porträts und sagte: ›Mit etwas Phantasie sieht der da doch genauso aus wie einer von den beiden Alten in der Muppet Show, oder?‹«
    Er schüttelte Wasser von dem Blatt: Tröpfchen flogen, hell wie Feuer in den sich kreuzenden Sonnenstrahlen. »Schon damals«, sagte er, »wusste ich, dass andere mich für unzugänglich hielten. Ich hatte kein Problem damit. Aber Abby fand das offenbar nicht, und das weckte meine Neugier. Später hat sie mir erzählt, sie wäre fast gelähmt gewesen vor Schüchternheit, nicht nur bei mir, sondern bei allem und jedem – aufgewachsen in Dublin bei wechselnden Pflegeeltern und plötzlich mitten unter all den Mittelschichtssprösslingen, für die das College und Privilegien selbstverständlich waren –, und da hat sie sich gedacht, wenn sie schon den Mut aufbringen würde, mit jemandem zu sprechen, warum dann nicht mit dem am abweisendsten wirkenden Menschen, den sie finden konnte. Wir waren wirklich noch sehr jung.
    Sobald wir immatrikuliert waren, sind wir zusammen einen Kaffee trinken gegangen, und dann haben wir uns gleich wieder für den nächsten Tag verabredet – na ja, nicht gerade verabredet , Abby hat nur gesagt: ›Morgen Mittag mach ich die Bibliotheksbesichtigung mit, wir sehen uns da‹, und ist verschwunden, ehe ich ja oder nein sagen konnte. Da wusste ich bereits, dass ich sie bewunderte. Es war ein ganz neues Gefühl für mich, ich bewundere nämlich nicht viele Menschen. Aber sie war so entschlossen, so lebendig, im Vergleich zu ihr kamen mir alle anderen, denen ich bis dahin begegnet war, blass und schattenhaft vor. Wie du vermutlich bemerkt hast« – Daniel lächelte mich schwach über seine Brille hinweg an –, »neige ich dazu, eine gewisse Distanz zum Leben zu wahren. Ich hatte immer das Gefühl, ein Beobachter zu sein, kein Teilnehmer, dass ich hinter einer dicken Glaswand stand und den Leuten beim Leben zuschaute – was sie mit einer Leichtigkeit taten, einem Geschick, das für sie ganz selbstverständlich war, mir aber völlig abging. Dann griff Abby durch das Glas hindurch und fasste meine Hand. Es war wie ein Stromschlag. Ich weiß noch, wie ich ihr hinterhersah, als sie über den Front Square ging – sie trug so einen grässlichen Fransenrock, der ihr viel zu lang war, sie ertrank förmlich darin – und merkte, dass ich lächelte …
    Justin war am nächsten Tag bei der Bibliotheksbesichtigung dabei. Er blieb die ganze Zeit ein paar Schritte hinter der Gruppe, und er wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn er nicht eine fürchterliche Erkältung gehabt hätte. Alle sechzig Sekunden oder so musste er furchtbar niesen, explosionsartig und nass, und alle zuckten zusammen und kicherten, und er lief puterrot an und versuchte, hinter seinem Taschentuch zu verschwinden. Er war offenbar entsetzlich schüchtern. Am Ende der Besichtigung drehte Abby sich zu ihm um, als hätten wir uns schon unser ganzes Leben lang gekannt, und sagte: ›Wir gehen in die Mensa, kommst du mit?‹ Ich habe selten ein so verschrecktes Gesicht gesehen. Sein Mund klappte auf, und er murmelte irgendwas Unverständliches, aber er ging brav mit. Als wir mit dem Essen fertig waren, sprach er bereits in ganzen Sätzen, und was er sagte, war noch dazu interessant. Wir hatten ungefähr die gleichen Sachen gelesen, und er hatte ein paar Ansichten über John Donne, auf die ich noch nie gekommen war … An dem Nachmittag merkte ich auf einmal, dass ich ihn mochte, dass ich sie beide mochte. Dass ich zum ersten Mal im Leben gern mit anderen zusammen war. Du wirkst nicht so, als würde es dir schwerfallen, Freundschaften zu schließen, deshalb kannst du dir vielleicht nicht richtig vorstellen, was das für eine Offenbarung war.
    Rafe fanden wir erst in der Woche darauf, als die Vorlesungen anfingen. Wir drei saßen hinten im Seminarraum und warteten auf den Dozenten, als plötzlich die Tür neben uns aufflog und Rafe hereinkam, tropfnass vom Regen, die Haare angeklatscht, die Fäuste geballt, offenbar direkt aus irgendeinem Verkehrschaos und in einer grauenhaften Stimmung. Es war ein ganz schön dramatischer Auftritt. Abby sagte: ›Donnerwetter, König Lear persönlich‹, und Rafe drehte sich blitzschnell zu ihr um und fauchte – du weißt ja, wie er sein kann –: ›Wie bist du denn hergekommen – in Daddys Nobelkarosse? Oder auf deinem Besen?‹ Justin und ich waren sprachlos, aber

Weitere Kostenlose Bücher