Totengleich
sie ein paar Euro die Minute kosten. Mutter gestorben, als er sieben war, Vater wieder verheiratet, zwei Halbbrüder, Justin fährt nicht oft nach Hause. Aber Daddy – Daddy ist Anwalt – zahlt ihm noch immer die Studiengebühren und schickt ihm jeden Monat Geld. Manche haben ein Schwein, was?«
»Sie können nichts dafür, wenn ihre Eltern Geld haben«, sagte ich nachdenklich.
»Sie könnten sich schließlich einen Job besorgen, oder nicht? Lexie hat Tutorenkurse gegeben, Hausarbeiten korrigiert, bei Klausuren Aufsicht geführt – sie hat gekellnert, bis sie raus nach Glenskehy gezogen sind und die Fahrerei zu kompliziert wurde. Hast du während des Studiums gejobbt?«
»Ich hab auch gekellnert, in einer Bar, und es war ätzend. Ich hätte es nie im Leben gemacht, wenn ich nicht gemusst hätte. Dir von betrunkenen Steuerberatern in den Hintern kneifen zu lassen macht dich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen.«
Frank zuckte die Achseln. »Ich kann Leute nicht leiden, die alles geschenkt kriegen. Apropos: Raphael Hyland, genannt Rafe. Sarkastischer kleiner Scheißer. Daddy ist Banker, ursprünglich aus Dublin, in den Siebzigern nach London gezogen. Mummy ist eine Gesellschaftstussi. Sie haben sich scheiden lassen, als Sohnemann sechs war, haben ihn schnurstracks ins Internat abgeschoben, alle zwei Jahre auf ein besseres, wenn Daddy mal wieder eine Gehaltserhöhung kriegte. Rafe lebt von seinem Treuhandfonds. Schreibt seine Diss über ›Die Figur des Unzufriedenen im jakobinischen Drama‹.«
Rafe lag wunderbar dekorativ ausgestreckt auf einem Sofa, in der Hand ein Glas Wein und auf dem Kopf eine Weihnachtsmannmütze. Er war geradezu lächerlich schön, und zwar auf die Art, die bei vielen Männern den panischen Drang auslöst, mit betont tiefer Stimme abfällige Bemerkungen von sich zu geben. Er hatte die gleiche Größe und Statur wie Justin, aber sein Gesicht bestand aus lauter Knochen und markanten Winkeln, und er war von Kopf bis Fuß golden: dichtes, dunkelblondes Haar, so ein Teint, der immer leicht gebräunt aussieht, Augen von einer Farbe wie dunkler Eistee und stechend wie die eines Habichts. Ich musste an eine Maske aus dem Grab eines ägyptischen Fürsten denken.
»Wow«, sagte ich. »Mit einem Mal kommt mir der Fall um einiges verlockender vor.«
»Wenn du brav bist, erfährt dein Freund von mir nicht, dass du das gesagt hast. Der Typ ist wahrscheinlich sowieso eine Schwuchtel«, sagte Frank entsetzlich vorhersehbar. »Zu guter Letzt: Abigail Stone. Genannt Abby.«
Abby war nicht direkt hübsch – klein, mit schulterlangem braunen Haar und einer Stupsnase –, aber ihr Gesicht hatte etwas: Der Schwung ihrer Augenbrauen und ein gewisser Zug um den Mund verliehen ihr eine besondere Ausstrahlung, die einen zweimal hinschauen ließ. Sie saß vor dem Kamin, in dem ein Torffeuer brannte, und fädelte Girlanden aus Popcorn auf, doch sie warf der Person mit der Kamera – Lexie vermutlich – einen schiefen Blick zu, und da ihre freie Hand verschwommen war, nahm ich an, dass sie gerade ein Popcorn in Richtung Kamera geworfen hatte.
»Bei ihr sieht die Sache ganz anders aus«, sagte Frank. »Aus Dublin, Vater nie in Erscheinung getreten, Mutter hat sie in eine Pflegefamilie abgeschoben, als sie zehn war. Abby hat ein Eins-a-Abschlusszeugnis gemacht, einen Studienplatz am Trinity ergattert, sich krummgelegt und ein Bombenexamen geschafft. Jetzt promoviert sie über die Klassengesellschaft in der viktorianischen Literatur. Hat ihr Studium mit Putzjobs und Nachhilfe finanziert. Jetzt, wo sie keine Miete zahlen muss – Daniel verlangt keine –, verdient sie sich mit Tutorenkursen am College was dazu und mit Recherchen für ihren Professor. Ihr werdet euch gut verstehen.«
Selbst auf diesen spontanen Schnappschüssen hatten alle vier etwas an sich, das einen dazu brachte, sie länger anschauen zu wollen. Zum Teil lag das an der Bilderbuchidylle des Ganzen – ich konnte fast die Zimtsterne im Backofen riechen und Sternsinger im Hintergrund hören, sie waren praktisch nur einen Tannenzweig von einer Weihnachtskarte entfernt. Zum Teil war es die Art, wie sie gekleidet waren, schmucklos, fast puritanisch: die Hemden der Männer blendend weiß, messerscharfe Bügelfalten in ihren Hosen, Abbys langer Wollrock, den sie züchtig unter die Knie geklemmt hatte, nicht ein Logo oder ein Slogan in Sicht. Zu meiner Studienzeit sahen unsere Klamotten immer so aus, als wären sie einmal zu oft in einem
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