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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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ich überhaupt noch einen Job hatte. Als ich schließlich wach wurde, überlegte ich, mich krankzumelden, aber ich war mir nicht sicher, wen ich anrufen müsste – Frank vermutlich, aber der war ganz bestimmt nicht in Plauderlaune. Ich beschloss, dass sich andere den Kopf darüber zerbrechen sollten. Stattdessen ging ich in den Ortskern von Sandymount, übersah sorgsam alle Zeitungsschlagzeilen, kaufte etwas zu essen, ging nach Hause, aß das meiste von dem, was ich eingekauft hatte, und machte dann einen sehr langen Spaziergang am Strand.
    Es war ein geruhsamer, sonniger Nachmittag. Die Promenade war voll mit alten Menschen, die langsam spazieren gingen und die Gesichter in die Sonne hielten, Pärchen, die sich aneinanderschmiegten, aufgedrehte kleine Kinder, die durch die Gegend tapsten wie niedliche dicke Hummeln. Ich erkannte etliche Leute. Sandymount zählt noch zu den Orten, wo man bekannte Gesichter sieht und man sich zulächelt und bei den Kindern aus der Nachbarschaft selbstgemachtes Parfüm kauft. Das ist einer der Gründe, warum ich da wohne, aber an dem Tag kam mir alles fremd und beunruhigend vor. Mir war, als wäre ich zu lange fort gewesen, so lange, dass die Geschäfte alle hätten anders aussehen müssen, die Häuser mit neuen Farben gestrichen, die bekannten Gesichter älter, alt, verschwunden.
    Es war Ebbe. Ich zog die Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und ging hinaus auf den Sand, bis mir das Wasser um die Knöchel spülte. Ein Augenblick vom Tag zuvor ging mir immer wieder durch den Kopf: Rafes Stimme, leise und gefährlich wie Schnee, die zu Justin Du verdammter Scheißkerl sagte.
    In dieser letzten Sekunde, ehe alles explodierte, hätte ich eines tun können; ich hätte sagen können: »Justin? Du hast mich niedergestochen?« Er hätte geantwortet. Es wäre auf dem Band gewesen, und früher oder später hätte Frank oder Sam ihn dazu gebracht, es noch einmal zu sagen, und zwar nachdem er über seine Rechte belehrt worden war.
    Wahrscheinlich werde ich nie wissen, warum ich es nicht getan habe. Mitleid, vielleicht, ein Tröpfchen davon, zu wenig und zu spät. Oder – das würde Frank vermuten – zu starke emotionale Beteiligung, selbst da noch: Whitethorn House und die fünf, noch immer wie Pollenstaub über mich gepudert und ich noch immer glitzernd und trotzig: Wir gegen den Rest der Welt . Oder vielleicht, und ich hoffe, dass das der eigentliche Grund war, weil die Wahrheit komplizierter und unzugänglicher ist, als ich einmal dachte, ein heller trügerischer Ort, zu dem man über verwinkelte kleine Nebenstraßen ebenso gelangt wie über schnurgerade Alleen, und näher konnte ich nun mal nicht herankommen.
    Als ich nach Hause kam, saß Frank auf den Stufen vor der Haustür, ein Bein ausgestreckt, ärgerte die Katze von nebenan mit einem losen Schnürsenkel und pfiff dabei tonlos »Leave Her, Johnny, Leave Her«. Er sah schrecklich aus, zerknautscht und übernächtigt und unrasiert. Als er mich sah, zog er das Bein wieder an und stand auf, woraufhin die Katze in die Büsche davonhuschte.
    »Detective Maddox«, sagte er. »Sie sind heute nicht zur Arbeit erschienen. Gibt es ein Problem?«
    »Ich wusste nicht, für wen ich zurzeit arbeite«, sagte ich. »Ob überhaupt für irgendwen. Außerdem hab ich ausgeschlafen. Mir stehen noch ein paar Tage Urlaub zu. Einen davon nehme ich gerade.«
    Frank seufzte. »Vergiss es. Ich überleg mir was – für einen weiteren Tag gehörst du noch zu meiner Truppe. Aber ab morgen bist du wieder im DHG.« Er trat beiseite, um mich die Tür öffnen zu lassen. »Es war hart.«
    »Ja«, sagte ich. »Das war’s.«
    Er folgte mir die Treppe hinauf in meine Wohnung und steuerte schnurstracks auf die Kaffeemaschine zu – es war noch eine halbe Kanne kalter Kaffee von meinem verspäteten Frühstück übrig. »Das seh ich gern«, sagte er und nahm eine Tasse vom Abtropfbrett. »Wenn ein Detective immer auf alles vorbereitet ist. Willst du auch welchen?«
    »Ich hab schon jede Menge intus«, sagte ich. »Bedien dich.« Mir war schleierhaft, weshalb er gekommen war: um eine Nachbesprechung zu machen, mir den Kopf zu waschen, sich wieder zu vertragen, keine Ahnung. Ich hängte meine Jacke auf und fing an, die Bettwäsche vom Futon zu ziehen, damit wir uns setzen konnten, ohne uns zu nahe kommen zu müssen.
    »Also«, sagte Frank, stellte seine Tasse in die Mikrowelle und drückte Knöpfe. »Hast du von der Sache mit dem Haus gehört?«
    »Sam hat’s mir

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