Totengleich
genug, um zu ahnen, dass er es trotzdem tun würde und dass ich lediglich das Flakfeuer auf mich gelenkt hatte. Wir taten etwas Schönes, und ich dachte, das hieße, es könnte kein Schaden daraus erwachsen. Seitdem ist mir der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht doch um einiges naiver bin, als ich wirke. Wenn ich eins im Morddezernat gelernt habe, dann, dass Unschuld nicht genügt.
Ich bin nicht Lexie, mein Körper funktioniert nicht wie ein Uhrwerk, schon gar nicht, wenn meine Nerven blankliegen und ich gestresst und ein Häufchen Elend bin. Als das schreckliche bange Gefühl einsetzte, hatte ich mich bereits ins DHG versetzen lassen, Rob war auf irgendein bürokratisches Abstellgleis geschoben worden, und alles, was wir je gehabt hatten, war niedergebrannt und nur noch bittere Asche. Er war so weit weg, dass ich ihn auf der anderen Seite nicht mal mehr sehen konnte. Ich erzählte es niemandem. Ich bestieg an einem graupeligen Samstag vor Tagesanbruch die Fähre nach England und war am selben Abend wieder in meiner dunklen Wohnung – zu fliegen wäre schneller gegangen, aber schon die Vorstellung, je eine Stunde auf dem Hin- und Rückflug stillzusitzen, Ellbogen an Ellbogen eingezwängt zwischen fremden Leuten, war unerträglich. Stattdessen marschierte ich an Deck der Fähre auf und ab. Auf der Rückfahrt wurde der Schneeregen stärker, und ich war nass bis auf die Haut. Wenn außer mir noch jemand an Deck gewesen wäre, hätte er gedacht, ich würde weinen, aber ich weinte nicht, kein einziges Mal.
In der Zeit war Sam der einzige Mensch, den ich in meiner Nähe aushalten konnte. Alle anderen befanden sich auf der anderen Seite einer dicken, gewellten Glaswand. Sie jammerten und gestikulierten und schnitten Grimassen, und es kostete mich meine ganze Energie, dahinterzukommen, was sie von mir wollten, und mit den richtigen Geräuschen zu reagieren. Sam war der Einzige, den ich hören konnte, er hat eine schöne Stimme: eine Stimme vom Lande, bedächtig und ruhig, tief und satt wie Erde. Seine Stimme drang als einzige durch das Glas und kam mir real vor.
Als wir uns an dem Montag nach der Arbeit auf einen Kaffee trafen, musterte er mich mit einem langen, forschenden Blick und sagte: »Du siehst aus, als hättest du die Grippe, die geht im Augenblick rum. Ich fahr dich nach Hause, ja?« Er packte mich ins Bett, ging einkaufen, kam zurück und kochte für mich einen Eintopf. In der Woche kochte er jeden Abend für mich und erzählte furchtbare Witze, bis ich schon lachen musste, wenn ich nur den hoffnungsvollen Ausdruck in seinem Gesicht sah. Sechs Wochen später war ich es, die ihn zuerst küsste. Als seine kantigen, sanften Hände meine Haut berührten, konnte ich spüren, wie gerissene Zellen heilten. Ich bin nie auf Sams Landei-Nummer reingefallen, ich war mir immer sicher, dass mehr dahintersteckt, aber mir war nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen – wie gesagt, ich bin naiver, als ich wirke –, dass er Bescheid gewusst hatte, die ganze Zeit, und so klug gewesen war, es auf sich beruhen zu lassen.
»Ich muss nur eines wissen«, sagte Sam, »und zwar, ob es vorbei ist, für dich, die ganze Geschichte. Ob … Ich kann mich nicht unser ganzes Leben lang fragen, was passieren würde, wenn Rob wieder Vernunft annehmen und zurückkommen würde, um dich … Ich weiß, wie schwer es für dich war. Ich hab versucht, dir Freiraum zu lassen, so nennt man das wohl, um dir über manches klarzuwerden. Aber jetzt, wenn wir wirklich verlobt sind … muss ich es einfach wissen.«
Das erste Sonnenlicht fiel auf sein Gesicht, machte ihn ernst und klarsichtig wie einen müden Apostel an einem Fenster. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Ehrlich, Sam. Jetzt ist es wirklich vorbei.«
Ich legte eine Hand an seine Wange. Sie war so blank, dass ich einen Moment lang dachte, sie würde mich verbrennen, ein reines, schmerzloses Feuer. »Gut«, sagte er mit einem Seufzer, und seine Hand hob sich, legte sich um meinen Hinterkopf und zog mich nach unten auf seine Brust. »Das ist gut«, und seine Augen fielen zu, noch ehe er den Satz beendete.
Ich schlief bis zwei Uhr am Nachmittag. Irgendwann frühmorgens quälte Sam sich aus dem Bett, gab mir einen Kuss zum Abschied und schloss leise die Tür hinter sich, aber niemand rief an, um mir zu sagen, ich sollte gefälligst endlich zur Arbeit kommen, wahrscheinlich weil keiner so recht wusste, zu welchem Dezernat ich derzeit eigentlich gehörte oder ob ich suspendiert war oder ob
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