Totengleich
sie wahrscheinlich nicht leiden können. Genau darum geht’s. Ich will nicht, dass sie mir im Kopf herumspukt. Ich will mir keine Gedanken über sie machen. Ich hoffe, wenn ich genug über sie herausfinde, kann ich die ganze Sache abhaken und vergessen, dass es sie je gegeben hat.«
»Ich habe einen Doppelgänger«, sagte Sam. »Er lebt in Wexford, er ist Ingenieur, und mehr weiß ich nicht über den Mann. Etwa einmal im Jahr quatscht mich irgendeiner an und sagt, ich wäre ihm zum Verwechseln ähnlich – die Hälfte von denen nennt mich sogar Brendan. Dann lachen wir, manchmal macht einer mit seinem Handy ein Foto von mir, um es ihm zu zeigen, und damit hat es sich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist was anderes.«
»Inwiefern?«
»Er wurde zum Beispiel nicht ermordet.«
»Ich wünsch dem Mann nichts Böses«, sagte Sam, »aber es wär mir egal, wenn er ermordet würde. Solange ich nicht mit dem Fall betraut würde, wäre er nicht mein Problem.«
»Die Tote ist mein Problem«, sagte ich. Sams Hände um meine waren groß und warm und fest, und die Haare fielen ihm in die Stirn wie immer, wenn er besorgt war. Es war ein Samstagabend im Frühling; eigentlich hätten wir an irgendeinem Strand spazieren gehen sollen, umgeben von Dunkelheit und Wellen und Brachvögeln, oder irgendein neues Rezept zum Abendessen kochen und die Musik zu laut aufdrehen oder in einer stillen Ecke in einem dieser seltenen, abgelegenen Pubs sitzen, wo die Gäste nach der Sperrstunde noch Balladen singen. »Ich wünschte, sie wäre es nicht, aber sie ist es.«
»Irgendwas an der Sache«, sagte Sam, »will mir einfach nicht in den Kopf.« Er hatte unsere Hände auf meine Knie sinken lassen und blickte mit finsterer Miene darauf, während er in einem stetigen, automatischen Rhythmus mit dem Daumen um meine Knöchel fuhr. »Ich sehe da nichts anderes als einen stinknormalen Mordfall, verbunden mit einem Zufall, der jedem passieren könnte. Klar, ich war auch geschockt, als ich die Tote sah, aber nur weil ich dachte, du wärst es. Sobald das geklärt war, dachte ich, jetzt geht alles wieder seinen normalen Gang. Aber du und Mackey führt euch beide auf, als würde die Frau euch irgendwas bedeuten, als wäre es was Persönliches. Was entgeht mir da?«
»In gewisser Weise«, sagte ich, »ist es was Persönliches, ja. Für Frank ist es teilweise genau das, was du vermutest – er hält das Ganze für ein großes, tolles Abenteuer. Aber das ist nicht alles. Lexie Madison war am Anfang seine Verantwortung, sie war in den acht Monaten, die ich undercover war, seine Verantwortung, sie ist jetzt seine Verantwortung.«
»Aber die Frau ist nicht Lexie Madison. Sie ist eine Identitätsdiebin. Ich könnte morgen früh ins Betrugsdezernat gehen und würde zig mehr von ihrer Sorte finden. Es gibt keine Lexie Madison. Du und Mackey habt sie erfunden.«
Seine Hände schlossen sich fester um meine. »Ich weiß«, sagte ich. »Darum geht’s ja eigentlich.«
Sams Mundwinkel zuckte. »Ich sag’s ja. Der Mann ist irre.«
Ich sah das nicht unbedingt anders als er. In meinen Augen lag Franks legendäre Furchtlosigkeit auch darin begründet, dass es ihm eigentlich nie richtig gelungen war, einen Bezug zur Realität herzustellen. Für ihn ist jede Operation wie eine von diesen Kriegsspielchen des Pentagons, nur noch cooler, weil mehr auf dem Spiel steht und die Ergebnisse greifbar und nachhaltig sind. Weil die Bruchlinie so dünn ist und weil er so clever ist, kommt sie nie deutlich zum Vorschein. Aber obwohl er jeden Aspekt abdeckt und jede Situation wunderbar und eiskalt unter Kontrolle behält, glaubt ein Teil von ihm im Grunde, dass er von Sean Connery gespielt wird.
Ich sah das, weil ich es wiedererkannte. Mein eigener Grenzzaun zwischen real und nicht real war nie besonders gut. Meine Freundin Emma, bei der Dinge immer einen klaren Sinn ergeben müssen, meint, das liege daran, dass ich beim Tod meiner Eltern noch zu klein war, um es richtig zu begreifen: Sie waren von einem auf den anderen Tag nicht mehr da, krachten mit solcher Wucht und so schnell durch diesen Zaun, dass das Holz für immer gesplittert blieb. Als ich acht Monate lang Lexie Madison war, wurde sie für mich zu einer realen Person, einer Schwester, die ich verloren oder unterwegs zurückgelassen hatte; ein Schatten irgendwo in mir, wie die Schatten von verlorenen Zwillingen, die ganz selten mal auf den Röntgenbildern von Leuten auftauchen. Noch ehe sie zurückkam, um mich zu
Weitere Kostenlose Bücher