Totengleich
finden, wusste ich, dass ich ihr etwas schuldete, weil ich diejenige war, die lebte.
So etwas wollte Sam wahrscheinlich nicht hören; er musste schon genug Verrücktes verdauen, da wollte ich ihm nicht noch mehr auftischen. Stattdessen – etwas Besseres fiel mir nicht ein – versuchte ich, ihm von der Undercoverarbeit zu erzählen. Ich erzählte ihm, dass deine Sinne nie wieder ganz dieselben sind, dass Farben so grell werden, dass sie sich einbrennen, und die Luft hell und rauschhaft schmeckt, wie dieser Likör, in dem winzige Goldblättchen schwimmen; dass dein Gang sich verändert, dein Gleichgewichtssinn fein austariert wird wie bei einem Surfer, wenn du jede Sekunde auf dem rasenden Grat einer gefährlichen Welle verbringst. Ich erzählte ihm, dass ich danach nie wieder mit meinen Freunden einen Joint geraucht oder in einem Club Ecstasy genommen hatte, weil kein Rausch je daran heranreichte. Ich erzählte ihm, wie verdammt gut ich gewesen war, ein Naturtalent, besser, als ich im DHG in einer Million Jahre sein würde.
Als ich fertig war, blickte Sam mich mit einer besorgten kleinen Furche zwischen den Augenbrauen an. »Was willst du damit sagen?«, fragte er. »Willst du damit sagen, dass du vorhast, dich wieder zur Undercoverarbeit versetzen zu lassen?«
Er hatte die Hände von meinen genommen. Ich sah ihn an, wie er da am anderen Ende des Sofas saß, die Haare an einer Seite zerzaust, und mich forschend anstarrte. »Nein«, sagte ich, »will ich nicht«, und konnte zusehen, wie sich sein Gesicht erleichtert entspannte. »Absolut nicht.«
Aber ich habe Sam nicht alles erzählt: Undercovercops passieren schlimme Dinge. Einige werden getötet. Die meisten verlieren Freunde, Ehepartner, Beziehungspartner. Ein paar verwildern sozusagen, wechseln ganz allmählich die Seiten und merken es erst, wenn es zu spät ist, bis sie schließlich diskret in den Vorruhestand geschickt werden. Manche, und nie diejenigen, bei denen man es erwarten würde, verlieren die Nerven – ohne Vorwarnung, sie wachen einfach eines Morgens auf und begreifen mit einem Schlag, was sie da machen, und sie erstarren wie Seiltänzer, die nach unten geschaut haben. Zum Beispiel ein gewisser McMall: Er war in eine Splittergruppe der IRA eingeschleust worden, und kein Mensch hätte gedacht, dass er überhaupt wusste, was Angst ist, bis er eines Abends aus einer Gasse neben einem Pub anrief. Er könne nicht mehr da reingehen, sagte er, und er könne auch nicht weggehen, weil seine Beine zu stark schlotterten. Er weinte. Kommt mich holen , sagte er, ich will nach Hause. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er im Archiv. Und einige schlagen den anderen Weg ein, den tödlichsten Weg von allen: Wenn der Druck zu groß wird, verlieren sie nicht die Nerven, sondern jede Furcht. Sie können keine Angst mehr empfinden, nicht mal dann, wenn sie sollten. Diese Menschen können nie wieder nach Hause. Sie sind wie jene Flieger im Ersten Weltkrieg, die besten, strahlende Draufgänger und unbesiegbar, die nach Hause kamen und feststellen mussten, dass es dort keinen Raum gab für das, was sie geworden waren. Manche Menschen sind Undercovercops bis ins innerste Mark; der Job hat von ihnen Besitz ergriffen.
Ich hatte nie Angst davor, getötet zu werden, und ich hatte nie Angst davor, die Nerven zu verlieren. Meine Art von Mut ist am verlässlichsten, wenn es richtig brenzlig wird. Es sind andere Gefahren, kompliziertere und heimtückischere, die mich erschüttern. Aber die anderen Möglichkeiten, die machten mir Sorgen. Frank hat einmal zu mir gesagt – und ich weiß nicht, ob er recht hat oder nicht, und auch das habe ich Sam nicht erzählt –, dass die besten Undercovercops alle einen dunklen Faden in sich eingewebt haben, irgendwo.
3
Am Sonntagabend fuhren Sam und ich also zur Dubliner Burg, um bei Franks Kriegsrat dabei zu sein. In der Dubliner Burg ist das Morddezernat untergebracht. Ich hatte meinen Schreibtisch dort im Herbst an einem anderen langen kühlen Abend geräumt, hatte meine Unterlagen ordentlich gestapelt und jeden Stapel mit einem Post-it etikettiert, hatte die Cartoons, die an meinem Computer klebten, ebenso weggeworfen wie die angekauten Stifte und alten Weihnachtskarten und muffig gewordenen M&Ms in meinem Schreibtisch, hatte das Licht ausgemacht und die Tür hinter mir geschlossen.
Sam holte mich ab. Er war sehr still. Am Morgen war er früh aufgestanden und zur Arbeit gefahren, so früh, dass es in der Wohnung noch dunkel war, als
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