Totengleich
ihre Berührung, die mir über die Härchen auf den Armen strich. Ich hatte gedacht, ich würde mich daran erinnern, wie es war, an jede Einzelheit, aber ich hatte mich getäuscht: Erinnerungen sind nichts, sind weich wie Gaze auf der mitleidslosen Rasiermesserschärfe dieser Schneide, wunderschön und tödlich, ein winziger Ausrutscher, und sie schneidet bis auf den Knochen.
Er raubte mir den Atem, jener Abend. Wer schon mal im Traum in sein Lieblingsbuch oder seinen Lieblingsfilm oder seine Lieblingsfernsehserie hineinspaziert ist, kann sich vielleicht ungefähr vorstellen, was das für ein Gefühl war: wenn alles um dich herum lebendig wird, seltsam und neu und ungemein vertraut zugleich; dein stolpernder Herzschlag, wenn du dich durch die Räume bewegst, die in deinen Gedanken ein so plastisches, unberührbares Leben hatten, wenn deine Füße den Teppichboden tatsächlich berühren, wenn du diese Luft atmest. Das sonderbare, heimliche warme Gefühl, wenn diese Leute, die du so lange und aus so großer Ferne beobachtet hast, ihren Kreis öffnen und dich hereinziehen. Abby und ich ließen die Korbschaukel träge schwingen. Die Jungs machten Abendessen und kamen immer mal wieder durch die Terrassentür mit den kleinen Scheiben aus der Küche zu uns nach draußen – Bratkartoffelduft, brutzelndes Fleisch, auf einmal hatte ich einen Bärenhunger – oder riefen uns irgendetwas zu. Rafe kam heraus und stützte sich zwischen uns auf die Rückenlehne, um einen Zug von Abbys Zigarette zu nehmen. Der dunkelnde, rosig goldene Himmel und große duftige Wolken, langsam treibend wie der Rauch eines Lagerfeuers in der Ferne, kühle Luft, erfüllt mit Gras und Erde und wachsenden Dingen. »Essen kommen!«, rief Justin über das Klappern von Geschirr hinweg.
Der lange, reichgedeckte Tisch, makellos mit dem schweren roten Damasttuch, den schneeweißen Servietten; die Kerzenständer, umrankt mit Efeu, Flammen, die in Miniaturformat in den Wölbungen der Gläser schillerten, sich im Silber spiegelten, in den dunkler werdenden Fenstern wie Irrlichter winkten. Und die vier, wie sie hochlehnige Stühle heranzogen, die Haut glatt und die Augen in dem verwirrenden goldenen Licht umschattet: Daniel am Kopf- und Abby am Fußende, Rafe neben mir und Justin gegenüber. In natura war die feierliche Atmosphäre, die ich auf den Videos und in Franks Notizen wahrgenommen hatte, so stark wie Weihrauch. Es war, als würden wir uns zu einem Festbankett zusammensetzen, zu einem Kriegsrat, zu einer Partie russisches Roulette, hoch oben in einem einsamen Turm.
Sie waren so schön. Rafe war der Einzige, der als wirklich gutaussehend hätte bezeichnet werden können, aber dennoch, wenn ich an sie zurückdenke, muss ich immerzu an diese Schönheit denken.
Justin verteilte Steak Diane auf Teller und ließ sie herumreichen – »Extra für dich«, sagte er mit einem schwachen Lächeln zu mir. Rafe gab Röstkartoffeln auf jeden Teller, der bei ihm vorbeikam. Daniel schenkte Rotwein in nicht zueinander passende Weingläser.
Dieser Abend nahm jede Gehirnzelle, die ich hatte, in Anspruch. Ich durfte auf gar keinen Fall betrunken werden. »Ich soll keinen Alkohol trinken«, sagte ich. »Die Antibiotika.«
Das war das erste Mal, dass einer von uns den Messerangriff zur Sprache brachte, wenn auch nur indirekt. Für den Bruchteil einer Sekunde – oder vielleicht bildete ich es mir bloß ein – erstarb jede Bewegung im Raum, die Flasche verharrte halb geneigt, Hände stockten mitten in Gesten. Dann goss Daniel weiter ein, mit einer geschickten Drehung des Handgelenks, so dass knapp ein Fingerbreit ins Glas kam. »Da«, sagte er gelassen. »Ein Schlückchen wird dir schon nicht schaden. Nur zum Anstoßen.«
Er reichte mir mein Glas und füllte seins. »Auf deine Heimkehr«, sagte er.
In dem Augenblick, als das Glas von seiner Hand in meine wechselte, ließ irgendetwas einen hohen wilden Warnschrei in meinem Hinterkopf gellen. Persephones verhängnisvolle Granatapfelkerne, Nimm nie Essbares von Fremden an ; alte Geschichten, in denen ein einziger Schluck oder Bissen die Zauberwand für immer verschließt, die Straße nach Hause in Nebel auflösen und vom Wind wegwehen lässt. Und dann, eindringlicher: Wenn sie es doch waren, und der Wein vergiftet ist; Mannomann, was für ein Abgang. Und dann begriff ich mit einem Schauer wie von einem Stromstoß, dass es ihnen durchaus zuzutrauen wäre. Das reglose Quartett, das an der Tür auf mich gewartet hatte, jeder
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