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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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mit stocksteifem Rücken und kühlen, wachsamen Augen: Sie waren absolut imstande, das Spiel den ganzen Abend durchzuhalten, um mit einwandfreier Selbstbeherrschung und ohne einen einzigen Fehler auf den richtigen Augenblick zu warten.
    Aber sie lächelten mich alle an, die Gläser erhoben, und ich hatte keine andere Wahl. »Auf uns«, sagte ich und beugte mich über den Tisch, um zwischen Efeu und Kerzenflammen mit ihnen anzustoßen: Justin, Rafe, Abby, Daniel. Ich trank einen Schluck von dem Wein – er war warm und schwer und weich, Honig und Sommerbeeren, und ich spürte ihn bis in die Fingerspitzen –, und dann nahm ich mein Besteck und schnitt in mein Steak.
    Vielleicht brauchte ich einfach nur etwas zu essen – das Steak war köstlich, und mein Appetit war mit einem Schlag wieder da, als wollte er verlorene Zeit aufholen, aber leider hatte keiner erwähnt, ob Lexie essen konnte wie ein Scheunendrescher, daher würde ich mir keinen Nachschlag geben lassen –, jedenfalls fing ich während dieses Dinners an, sie immer klarer zu sehen. Ab diesem Moment reihen sich die Erinnerungen aneinander, wie Glasperlen an einer Schnur, und der Abend verwandelt sich von einem blauen, verschwommenen Fleck in etwas Reales und Überschaubares. »Abby hat jetzt eine Puppe«, sagte Rafe, während er Kartoffeln auf seinen Teller schaufelte. »Wir wollten sie schon als Hexe verbrennen, aber dann haben wir beschlossen zu warten, bis du wieder da bist, um demokratisch abzustimmen.«
    »Abby verbrennen oder die Puppe?«, fragte ich.
    »Beide.«
    »Es ist nicht irgendeine Puppe«, sagte Abby und schnippte Rafe gegen den Arm. »Es ist eine spätviktorianische Puppe, und Lexie wird sie gefallen, weil sie keine Banausin ist.«
    »An deiner Stelle würde ich sie aus sicherer Entfernung bewundern«, sagte Justin zu mir. »Ich glaube, sie ist besessen. Ihre Augen verfolgen mich.«
    »Leg sie doch hin. Dann gehen die Augen zu.«
    »Ich rühr sie nicht an. Nachher beißt sie mich noch. Dann muss ich bis in alle Ewigkeit das Reich der Finsternis durchwandern, auf der Suche nach meiner Seele –«
    »Gott, hast du mir gefehlt«, sagte Abby zu mir. »War gar nicht leicht für mich, nur diese drei Weicheier zum Quatschen zu haben. Es ist nur ein klitzekleines Püppchen, Justin.«
    »Eine ausgewachsene Puppe«, sagte Rafe, Kartoffeln kauend. »Im Ernst. Sie ist aus einer geopferten Ziege gemacht.«
    »Nicht mit vollem Mund«, sagte Abby zu ihm. Zu mir: »Sie ist aus Ziegenleder. Der Kopf ist aus Porzellan. Ich hab sie in einer Hutschachtel in dem Zimmer gegenüber von meinem gefunden. Die Kleidung ist hinüber, und ich bin mit der Fußbank fertig, da dachte ich, ich könnte eine neue Garderobe für sie machen. Ich hab einen ganzen Haufen alte Stoffreste gefunden –«
    »Und erst ihre Haare«, sagte Justin und schob das Gemüse zu mir rüber. »Vergiss die Haare nicht. Die sind schrecklich.«
    »Sie trägt die Haare einer Toten«, klärte Rafe mich auf. »Wenn du eine Nadel in sie reinsteckst, kannst du Schreie vom Friedhof hören. Versuch’s mal.«
    »Verstehst du, was ich meine?«, sagte Abby, an mich gerichtet. »Weicheier. Sie hat echtes Haar. Wieso er glaubt, von einer Toten –«
    »Weil deine Puppe ungefähr 1890 hergestellt wurde, und ich kann rechnen.«
    »Und was für ein Friedhof? Hier gibt's keinen Friedhof.«
    »Irgendwo gibt’s einen. Irgendwo da draußen, jedes Mal, wenn du die Puppe berührst, zuckt eine Tote in ihrem Grab zusammen.«
    »Solange du nicht dieses Kopfdings verschwinden lässt«, sagte Abby würdevoll, »hast du keinen Grund, meine Puppe als gruselig abzutun.«
    »Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Das Kopfdings ist ein wertvolles wissenschaftliches Hilfsmittel.«
    »Ich mag das Kopfdings«, sagte Daniel und blickte überrascht auf. »Was ist daran auszusetzen?«
    »Es sieht aus wie etwas, an dem Aleister Crowley seine helle Freude hätte, das ist daran auszusetzen. Komm, Lex, sag, dass ich recht habe.«
    Frank und Sam hatten mir das Wichtigste an diesen vier nicht erzählt, vielleicht weil sie es nicht richtig erkannt hatten, nämlich wie nah sie sich waren. Die Handyvideos hatten die Macht dessen nicht einfangen können, genauso wenig, wie sie dem Haus gerecht geworden waren. Es war wie ein Schimmer in der Luft zwischen ihnen, wie glänzende spinnwebfeine Fäden, die hin und her und raus und rein geworfen wurden, bis jede Bewegung oder jedes Wort durch die ganze Gruppe vibrierte: Rafe, der Abby ihre

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