Totengleich
Konzentration, so hell und friedlich, wie etwas aus einem Traum. Eine jähe schwindelerregende Sekunde lang beneidete ich Lexie Madison.
Daniel spürte, dass ich ihn beobachtete: Er hob den Kopf und lächelte mich über den Tisch hinweg an. Es war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah, und es lag eine ungeheure, ernste Sanftheit darin. Dann beugte er den Kopf wieder über sein Buch.
Ich ging früh zu Bett, gegen zehn, teils um meiner Rolle gerecht zu werden und teils weil Frank recht behalten hatte, ich war völlig erledigt. Mein Gehirn fühlte sich an, als hätte es einen Triathlon hinter sich. Ich schloss die Tür von Lexies Zimmer (Maiglöckchengeruch, ein feiner leichter Hauch wirbelte an meiner Schulter hoch und rund um den Ausschnitt meines T-Shirts, neugierig und wachsam) und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Eine Sekunde lang dachte ich, ich würde es nicht bis zum Bett schaffen, würde einfach an der Tür runterrutschen und schon einschlafen, ehe ich auf dem Teppichboden landete. Der Job war anstrengender, als ich in Erinnerung hatte, und ganz bestimmt nicht, weil ich alt wurde oder mein Fingerspitzengefühl verlor oder irgendeine von den anderen reizvollen Möglichkeiten, die O'Kelly gemutmaßt hätte. Beim letzten Mal hatte ich das Heft in der Hand, konnte selbst entscheiden, mit wem ich Kontakt haben sollte, für wie lange, wie eng der Kontakt zu sein hatte. Diesmal hatte Lexie sie alle für mich herbestellt, und mir blieb keine Wahl: Ich musste haargenau nach ihren Regeln spielen, aufmerksam und unentwegt lauschen, als würde sie über einen schwachen, knisternden Ohrhörer zu mir sprechen, und mich von ihr lenken lassen.
Ich hatte dieses Gefühl schon öfters gehabt, bei meinen unerfreulichsten Ermittlungen: Jemand anderer diktiert, wo’s langgeht. Die meisten davon waren nicht gut ausgegangen. Aber da war der andere immer der Mörder gewesen, der uns stets drei hochnäsige Schritte voraus war. Ich hatte noch nie einen Fall gehabt, wo dieser andere das Opfer war.
Eines war allerdings einfacher. Bei meinem letzten Undercovereinsatz am UCD hatte jedes Wort aus meinem Munde einen fiesen Nachgeschmack, schmeckte irgendwie verdorben und falsch, wie verschimmeltes Brot. Ich sagte ja schon, dass ich nicht gern lüge. Diesmal jedoch hinterließ alles, was ich gesagt hatte, lediglich den blitzsauberen Geschmack von Wahrheit. Als mögliche Erklärung fiel mir dazu nur ein, dass ich mir selbst im großen Stil etwas vormachte – Rationalisieren gehört zum Undercoverhandwerk – oder dass ich irgendwie auf eine schräge Art, die tiefer und sicherer war als harte Fakten, gar nicht log. Solange ich die Sache hier richtig machte, war fast alles, was ich sagte, die Wahrheit, nur eben Lexies, nicht meine. Ich befand, dass es wahrscheinlich ein kluger Schritt wäre, mich von der Tür loszueisen und ins Bett zu gehen, ehe ich anfing, über eine der beiden Möglichkeiten allzu lange nachzudenken.
Ihr Zimmer lag im obersten Stock, nach hinten raus, gegenüber von Daniels und über Justins. Es war mittelgroß, hatte eine niedrige Decke, schlichte weiße Vorhänge und ein wackeliges schmiedeeisernes Einzelbett, das wie eine alte Wäschemangel quietschte, als ich mich draufsetzte – wenn Lexie es geschafft hatte, in dem Ding schwanger zu werden, alle Achtung. Der Bettbezug war blau und frisch gebügelt. Jemand hatte mein Bett frisch bezogen. Viele Möbel hatte sie nicht: ein Bücherregal, einen schmalen Holzschrank mit praktischen Streifen aus Silberfolie auf den Regalbrettern, wo draufstand, was wo hinkam (MÜTZEN, STRÜMPFE), eine abscheuliche Plastiklampe auf einem abscheulichen Nachttisch und eine Frisierkommode mit verstaubten Schneckenverzierungen und einem dreiteiligen Spiegel, der mein Gesicht in verwirrenden Winkeln reflektierte und mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte. Ich erwog, ihn mit einem Laken oder so zu verhängen, aber das hätte ich erklären müssen, und außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein Spiegelbild dann trotzdem dahinter weiter sein Spiel treiben würde.
Ich schloss meinen Koffer auf, horchte mit gespitzten Ohren auf irgendwelche Geräusche auf der Treppe und holte dann meinen neuen Revolver und die Rolle Pflaster für meine Verbände hervor. Selbst zu Hause schlafe ich nicht, ohne meine Pistole griffbereit zu haben – eine alte Gewohnheit, mit der ich nicht gerade jetzt brechen wollte. Ich klebte die Waffe hinten an den Nachttisch, außer Sicht, aber in
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